chicago/Berlin.

„Es ist in Ordnung, wenn es dir nicht gut geht“: Die Botschaft steht an der Wand, in freundlicher Schreibschrift. „It’s ok not to be ok.“ Das Café Sip of Hope in Chicago ist ein ehrgeiziger Ort. Die Baristas hier können nicht nur Milchherzen auf Cappuccinos, sie wissen weit mehr als Durchschnittsbaristas über die menschliche Psyche und darüber, wie sie aus den Fugen geraten kann. Sie sind keine Therapeuten, haben nicht Psychologie studiert, aber sie haben ein vertieftes Training des „Mental Health First Aid“-Programms absolviert. Erste Hilfe für die psychische Gesundheit: Wer hier arbeitet, hat keine Scheu davor, mit Gästen, die das wollen, über deren Depression zu sprechen. Oder sich dafür einzusetzen, dass Gesunde mehr über das Thema erfahren.

„Wir sind hier, wenn duuns brauchst“

Brian Kmiecik ist Geschäftsführer und Chef-Barista des im Mai eröffneten Cafés, dessen Name wörtlich übersetzt einen Schluck Hoffnung verspricht. „Wir wollen, dass die Leute sich wohlfühlen, aber sie sollen nicht denken, sie müssten über ihre Probleme reden“, sagt der 30-Jährige. Wichtig sei, dass sie wüssten: „Wir sind hier, wenn du uns brauchst.“

Das Café ist ein Ableger des Vereins „Hope for the Day“, an den auch die Gewinne fließen. Vereinsziel ist die Suizidprävention durch Aufklärung. Der Gründer war 2011 ein Mann aus der Chicagoer Musikszene, Jonny Boucher. Nachdem sich der neunte Mensch, den er persönlich kannte, das Leben genommen hatte, reichte es ihm. Heute steht dieser coole Punkrocker-Typ auf den Konzertbühnen und ruft dem Publikum zu, dass es kein Zeichen von Schwäche sei, sich in Krisen psychologische Hilfe zu holen. Und dass man lernen müsse, offen über das Thema zu reden.

Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind 90 Prozent der Suizide Folgen einer nicht oder nicht richtig behandelten psychischen Krankheit – meist einer Depression. Aber auch Schizophrenie und Suchterkrankungen können zu Suiziden führen. Die beste Prävention ist also, die Krankheiten rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln.

Weltweit gibt es Organisationen und Einrichtungen, die Menschen für das Thema sensibilisieren wollen. Wie „Hope for the Day“ und wie „Mental Health First Aid“, dessen Schulungsprogramm sie nutzen. Es wurde 2001 in Australien von einer Krankenschwester und einem Professor für Psychologie entwickelt. Nicht länger als ein Erste-Hilfe-Kurs für Führerscheinbewerber, acht Stunden, dauert das einfache „Mental Health First Aid“-Training für Laien. Jeder kann mitmachen. Das klingt nach wenig Zeit, aber der Kurs will nicht viel mehr als das, was er nachweislich schafft: Grundwissen vermitteln, Vorurteile und Scheu im Umgang mit psychisch Kranken abbauen. Diese Ziele werden erreicht, wie das Suizid-Präventionszentrum des Karolinska-Instituts in Stockholm (Schweden) in einer Überblicks-Studie gezeigt hat.

Das Training wird inzwischen in 25 Ländern, darunter viele in Europa, angeboten – in Deutschland bislang nicht. Dass die Aufklärung der Gesellschaft wichtig ist, sehen Experten hier aber genauso. „Basiswissen zu vermitteln über die häufigsten psychischen Erkrankungen, also Angststörungen und Depressionen, wäre für den Schulunterricht wünschenswert“, sagt Professor Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Depressionshilfe. „So wie man vielleicht schon mal etwas über Alkoholabhängigkeit gehört hat, sollte man über Depressionen etwas wissen.“

Auch die Stiftung bietet Schulungen für Laien an. Aber nicht für Privatpersonen – dazu fehlt der auf Spenden angewiesenen Einrichtung eigenen Angaben zufolge das Geld –, sondern für Unternehmen und Organisationen. „Wie gehe ich auf einen Mitarbeiter zu, der nur noch weinend vor dem PC sitzt oder nicht mehr in die Kantine gehen will? Das muss man mit Rollenspielen üben“, sagt Hegerl.

„Ich muss wissen: Wie weit kann ich gehen, was soll ich raten? Und dafür muss ich ein gewisses Basiswissen haben.“ Wichtig ist beim deutschen wie beim australischen Programm: Laien sollen keine Diagnosen stellen und nicht therapieren. Sie sollen nur in der Lage sein, jemandem zu helfen, der selbst den Weg zur Hilfe nicht findet.

Die Stiftung Depressionshilfe macht noch mehr: Unter ihrem Dach engagieren sich Menschen in 80 Städten im „Deutschen Bündnis gegen Depression“, zumeist ehrenamtlich. Sie tragen ein 2001 in Nürnberg erprobtes Modell zur besseren Versorgung depressiv erkrankter Menschen in die Regionen: Parallel werden dabei Hausärzte fortgebildet, die Öffentlichkeit wird mit PR-Aktivitäten informiert. Außerdem werden Multiplikatoren wie Pfarrer, Lehrer und Polizisten geschult, und Betroffene bekommen Angebote wie Laufgruppen, Vortragsabende, Achtsamkeitstraining.

In Deutschland nahmen sich 1980 18.451 Menschen das Leben, 2015 waren es noch 10.078. Die Aufklärungsarbeit hat sich verbessert, viele Institutionen widmen sich der Suizidprävention. Aber immer noch sterben in Deutschland pro Jahr dreimal so viele Menschen durch Selbsttötung wie durch Verkehrsunfälle – 2015 gab es laut Statistischem Bundesamt 3459 Verkehrstote.

Die USA erleben gar einen starken Anstieg der Suizidraten, 45.000 waren es 2016, laut Gesundheitsbehörde CDC 25 Prozent mehr als 1999. Zu wenig Zugang zu guter Psychotherapie, aber auch die Opioid-Krise, die Millionen Menschen in eine Schmerzmittelabhängigkeit gebracht hat, wird als möglicher Grund genannt. In diesem Frühjahr haben die Suizide der Designerin Kate Spade und des TV-Starkochs Anthony Bourdain die USA aufgerüttelt. Da hatte das Café Sip of Hope gerade eröffnet. „Danach hatten wir sehr viel zu tun“, sagt Barista Kmiecik. „Diese Fälle waren eine Erinnerung daran, wie wichtig unsere Mission ist. Viele Leute kamen, um Solidarität zu zeigen.“

Schokolade essen hilft nicht gegen Depressionen

Nach der Selbsttötung des Fußballprofis Robert Enke, der an schwerer Depression erkrankt war, wurde 2008 auch in Deutschland viel darüber gesprochen, dass dies kein Tabuthema mehr sein dürfe. Seine Witwe Teresa Enke gründete die Robert-Enke-Stiftung, die sich für Suizidprävention engagiert. Auch die Stiftung Depressionshilfe wurde in dem Jahr gegründet. Das Ziel ist immer dasselbe – Aufklärung. Den Menschen klarmachen: Depression ist eine Krankheit, sie kann und muss behandelt werden, Antidepressiva machen nicht abhängig – und es hilft einem Erkrankten nicht, sich zusammenzureißen und Schokolade zu essen. Laut einer Umfrage der Telefonseelsorge denkt das immer noch jeder fünfte Deutsche.