Mit dem romantischen Roadmovie „303“ ist Regisseur Hans Weingartner ein Meisterwerk gelungen

    Sie reden und reden und reden. Permanent aneinander vorbei und auch noch 145 Minuten lang. Und das soll man sich anschauen? Ja, unbedingt. Denn „303“ ist der schönste Liebesfilm des Jahres. Für seinen ersten Film seit sieben Jahren hat Hans Weingartner ein Minimum an Handlung und ein Maximum an Dialogen entwickelt. Er hat zwei Schauspieler in ein Wohnmobil gesteckt und sich mit ihnen von Berlin aus auf die Reise quer durch Europa gemacht. Ein Roadmovie im besten Sinn, bei dem das Gefährt nicht nur die dritte Hauptrolle spielt, sondern auch noch den Titel leiht: Es handelt sich um einen alten, etwas klapprigen Mercedes 303 Transporter.

    Jan und „Jule“ sind sich so ähnlich. Sie stecken fest und suchen das Weite. Biologiestudentin Julia (Mala Emde) hat gerade eine Prüfung verbockt, knabbert noch am Suizid des Bruders, ein Schwangerschaftstest erweist sich als positiv, und der Freund kündigt aus dem fernen Portugal die Monogamie auf. So schnappt sie sich den 303 ihres Bruders, sein Vermächtnis, und fährt Richtung Portugal.

    Politikstudent Jan (Anton Spieker) bekommt das nötige Stipendium nicht, weil er „zu radikal“ ist für die Adenauer-Stiftung. Auch er braucht eine Auszeit und macht sich auf nach Bilbao, wo sein leiblicher Vater lebt, den er noch nie gesehen hat.

    Jan verpasst seine Mitfahrgelegenheit, trampt, und Jule fährt vorbei. Eine dieser Kinozufälle, bei denen der Zuschauer immer schon ahnt, was passieren wird. Aber erst mal kommt es ganz anders: Man plauscht, kommt irgendwann auf Suizid, was Jan leidenschaftlich ablehnt. Ohne es zu ahnen, berührt er da einen ganz wunden Punkt bei Jule. Und die schmeißt ihn raus, mitten im Nirgendwo.

    Dabei kann es natürlich nicht bleiben. An einer Raststätte begegnen sie sich bald wieder, noch so ein Zufall, wie ihn nur das Kino erfinden kann. Jule wird dort sexuell bedrängt, Jan kommt gerade noch rechtzeitig, um einzuschreiten. Fortan herrscht Burgfrieden, Jan darf bis Spanien mitfahren. Erst auf dem Beifahrersitz, später auch hinterm Lenkrad. Durch fünf Länder und über Tausende Kilometer hinweg reden sie buchstäblich über Gott und die Welt. Über Evolution und die Empathie als Grundstein des Zusammenseins. Oder die Vereinzelungsstrategie des Kapitalismus. Je weiter die Reise geht, desto näher kommen sich die beiden. Aber immer, wenn sie sich besonders nahekommen, geraten sie sich mit ihren Standpunkten in die Haare. Philosophische Diskussionen als – wenn man so will – einziges unterbrochenes Vorspiel.

    Klares Vorbild ist „Before Sunrise“ (1995), in dem Ethan Hawke und Julie Delpy eine Nacht durch Wien zogen (und zwei weitere Filme durchdiskutierten). Weingartner verknüpft diese Dialog-Romanze mit dem Roadmovie – Before Bilbao quasi. Fast 20 Jahre hat er an dem Film getüftelt. Das mag erklären, dass die Mitfahrt in der Klapperkiste in Zeiten von Billigflügen etwas altmodisch oder doch sympathisch aus der Zeit gefallen wirkt.

    Lange ist Weingartner seinem Drehbuch nicht Herr geworden. Jule und Jan wurden dann erst mal Figuren eines anderen Films, seines bekanntesten: „Die fetten Jahre sind vorbei“. Doch über die Jahre hat er immer wieder an seinen komplexen und doch ganz leicht wirkenden Dialogen gefeilt. Nach langer Suche hat er auch die idealen Schauspieler dafür gefunden. Mala Ende, die gerade in „Wir töten Stella“ zu entdecken war, und Nachwuchshoffnung Anton Spieker gelingt es, die scheinbar so überhöhten Diskurse so natürlich zu sprechen, als sei das Ganze improvisiert. Eine Spitzenleistung, die wohl auch damit zusammenhing, dass das ganze kleine Drehteam im Transporter mitgefahren ist.

    Auch Liebe will er-fahren werden: „303“ ist einer der einfachsten und doch schönsten deutschen Filme vergangener Jahre. Und nebenbei auch noch beste Werbung für ein Europa ohne Grenzen. Was gerade ganz schön nötig ist. Weshalb „303“ vielleicht doch genau zur richtigen Zeit fertig geworden ist.

    „303“ D 2018, 145 Min., ab 12 J., R: Hans
    Weingartner, D: Anton Spieker, Mala Emde, Jörg Bundschuh, täglich im Abaton, Cinemaxx Dammtor, Koralle-Kino, Passage, Zeise; www.303-film.de