Berlin.

70 Quadratmeter beträgt die Atemoberfläche unserer Lunge, würde man sie ausklappen. Sie enthält mehr als 300 Millionen Lungenbläschen und bringt dennoch nur ein Gewicht von einem Kilogramm auf die Waage. Es ließe sich viel über die Lunge sagen, denn die Wissenschaft hat ein ziemlich genaues Bild von unserem Atemorgan – und trotzdem sterben jedes Jahr in Deutschland 30.000 Menschen an einer Pneumonie, einer Lungenentzündung. Seit 70 Jahren ist diese Zahl unverändert hoch.

Einige der Toten sind alt oder haben Vorerkrankungen. Aber längst nicht alle. „Es gibt immer wieder junge Patienten mit einer Lungenentzündung, bei denen wir alles richtig machen und trotzdem alles schiefgeht“, sagt Professor Norbert Suttorp, Direktor der Infektiologie und Pneumologie an der Charité. „Von dieser hohen Todeszahl müssen wir endlich herunterkommen.“

Das große Rätsel in dieser Geschichte ist das Immunsystem. Die Frage, warum der Körper Erregern oft etwas entgegenzusetzen hat, manchmal aber nicht – oder sogar zu viel. Norbert Suttorp leitet einen Forschungsverbund, der Antworten auf diese Frage finden möchte. Gerade haben die Charité und sechs Partner elf Millionen Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zugesagt bekommen – es ist bereits die dritte Förderperiode in Folge. „Das Thema ist sehr wichtig, denn die Lungenentzündung ist eine Volkskrankheit“, sagt Suttorp.

„Mit unseren Strategien kommen wir nicht weiter“

Ausgelöst durch Bakterien und Viren erkranken jedes Jahr 750.000 Menschen an einer ambulant, also nicht im Krankenhaus erworbenen Lungenentzündung. 291.000 kamen 2016 deswegen ins Krankenhaus, 13 Prozent dieser Patienten starben – mehr als 30.000 Verstorbene, das sind zehnmal mehr, als es 2016 Verkehrstote gab. Laut dem Helmholtz Zentrum München ist die Pneumonie in Westeuropa unter allen Infektionskrankheiten die häufigste Todesursache. „Mit den Strategien, die wir derzeit gegen Lungenentzündungen haben, kommen wir nicht weiter“, sagt Professorin Susanne Herold vom Universitätsklinikum Gießen, Co-Sprecherin des Forschungsverbundes.

Die bisherige Strategie heißt meist: mehr und neue Antibiotika. Denn es ist die Therapie, die zunächst den größten Erfolg verspricht. Allein, die Antibiotika wirken nicht immer. Deswegen haben die Wissenschaftler die Blickrichtung geändert.

Bislang konzentrierte sich die Forschung auf die Erreger und deren Eliminierung. „Aber uns fehlt sehr viel Wissen über das Angriffsziel, den Wirt. Und darüber, wie Wirt und Erreger zusammenspielen“, sagt Herold, die zu Infektionskrankheiten der Lunge forscht. Es sei wichtig, sich dem Wirt zuzuwenden und Therapieansätze zu entwickeln, die nicht in erster Linie gegen den Erreger, sondern für den Menschen arbeiten.

Den Schlüssel vermuten Forscher in der angeborenen Immunität der Lunge. Also jene Abwehr, die im Erbgut festgeschrieben ist und bereits kurz nach Eindringen eines Erregers in den Organismus anfängt zu arbeiten. Sie entscheidet dann, ob sie Alarm schlagen soll oder ob sie die Sache geräuschlos erledigt. Ein Balanceakt. Denn ist die Abwehr zu schwach, kann sich der krank machende Erreger weiter vermehren. Ist sie zu stark, schädigt das Immunsystem die Lunge. „Eine gute Immunabwehr ist lebenswichtig“, sagt Susanne Herold. „Aber eine starke Antwort des Körpers geht auch immer mit Kollateralschäden einher.“ Zellen werden geschädigt, besonders „das sehr delikate Gewebe der Lunge kann Schaden nehmen“, sagt Suttorp.

So gibt es Hinweise darauf, dass bei einigen Erkrankten eine überschießende Abwehr des Körpers gegen den Erreger letztlich zum Tod führt. Herold erzählt von einer Patientin: Ende 30, gesund. Innerhalb weniger Tage stirbt sie an einer Lungenentzündung, ausgelöst durch Influenzaviren, weil ihr Körper zu stark gegen den Erreger rebelliert hat. Um diese Patienten zu retten, müssen die Forscher die Abwehr besser verstehen. Das gelingt ihnen immer mehr.

So hat sich in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel in der Pneumologie vollzogen: „Lange Zeit dachten wir, die Lunge sei steril“, sagt Suttorp. Doch seit Kurzem ist sich die Wissenschaft einig, dass nicht nur der Darm, sondern auch die Lunge ein Mikrobiom hat. Also jene Ansammlung von Bakterien, die in ihrer genau abgestimmten Zusammensetzung für das Immunsystem des Menschen von großer Bedeutung ist.

Gerät sie aus dem Gleichgewicht und so ein potenziell krank machender Erreger in die Überzahl, kann der Mensch erkranken – auch an einer Lungenentzündung, wie man jetzt weiß. „Viele denken ja, man atmet einen bösen Erreger ein und bekommt dann eine Pneumonie“, sagt Susanne Herold. Doch das gelte nur für wenige Erreger. „Häufig führt aber eine Veränderung des Mikrobioms zu einer Erkrankung durch Erreger, die ohnehin da sind.“

Weil die meisten Pneumonien zunächst mit einem Antibiotikum behandelt werden, stellt das die Ärzte nun vor ein Dilemma. „Denn wir töten damit auch die guten Bakterien ab und schwächen das Mikrobiom weiter“, erklärt Herold. Das bedeutet auch, dass ein ohnehin schon gestörtes Mikrobiom – etwa durch eine vorangegangene Antibiotikatherapie aus anderen Gründen – die Lunge anfälliger für Erreger machen könnte.

Regeneration des Lungengewebes

Ein Ansatz, den sich das Immunsystem zunutze machen möchte, ist die Regeneration von zerstörtem Lungengewebe. Denn woran die Menschen sterben, ist in der Regel ein Multiorganversagen, weil in der zerstörten Lunge der Gasaustausch nicht mehr funktioniert. „Diese Regeneration müsste man innerhalb weniger Tage ankurbeln“, sagt Herold. Dafür könnte man etwa die sogenannten Makrophagen nutzen, Fresszellen des angeborenen Immunsystems. „Die Makrophagen fühlen, ob die Lunge geschädigt ist, und können dann einen entsprechenden Phänotyp annehmen, der wiederum die Reparatur der Lunge ankurbelt“, erklärt Herold. Dieser Ansatz wird bereits in einer klinischen Studie getestet.

Doch bis die Erkenntnisse in die Praxis einfließen, wird es einige Jahre dauern. Bis dahin weisen beide Experten auf den wichtigsten Schutz gegen die Pneumonie hin: die Impfung gegen Pneumokokken und Influenza.