Blankenese. Jochen Engel geht in den Ruhestand. Das Abendblatt begleitete ihn bei einer der letzten Touren durch sein Revier

Wer Arbeitstag für Arbeitstag 14 Kilometer zu Fuß zurück-legt, schwer bepackt, dabei 5400 Stufen schafft und im Jahr laufend fünf Paar Schuhe verschleißt, ist Hochleistungssportler – oder als Postbote im Blankeneser Treppenviertel unterwegs. Und das seit mehr als 44 Jahren. „Alles eine Frage der Technik und des Trainings“, sagt Jochen Engel. Der Mann, immerhin 65 Jahre alt, hat Puste wie ein Weltmeister. Während er über seinen Job im Dienste der Deutschen Post spricht, kurvt er flotten Schrittes bergauf und bergab. Zwischendurch greift er immer wieder zielsicher in seine schwarze Ledertasche, wirft Postsendungen ein und ruft Anwohnern oder Passanten ein herzhaftes „Moin!“ entgegen. Aus dem Fenster eines alten Kapitänshauses winkt eine betagte Dame. Der Abendblatt-Berichterstatter schweigt – ergriffen, zudem schon nach wenigen Minuten konditionell am Ende. Jetzt noch Sagebiels Treppe hochspurten? Jochen Engel erhört das stille Flehen und steuert Ahrbergs Restaurant am Strandweg an. Auf der Terrasse serviert Wirt Klaus einen steifen Kaffee. Aufs Haus. Man kennt sich „seit Jahrenden“.

Für die Post arbeitet der gebürtige Wernigeroderer seit 1967, und an die einmalige Tour, Zustellbezirk 10, kam er zufällig. Ein Kollege war krank. Ohne Einweisung erlief sich der sportliche Mann mit der gelben Wetterjacke sein Revier. Anfangs war es kein Vergnügen, den Elbhang mit dem Labyrinth aus 58 Treppen und nur einer Handvoll richtiger Straßen zu erkunden. Vorteil des anstrengenden Einsatzes: Jochen Engel kam mit den Anwohnern ins Gespräch. Mit fast allen, auch mit den älteren, ist er längst per Du.

Bewohner vertrauten ihm ihre Hausschlüssel an

Wer seit 1974 im Treppenviertel auf Tour ist, im Stadtteil „Engel ohne Flügel“ genannt wird und in einem der markantesten Viertel Hamburgs jeden Meter kennt, fungiert zusätzlich in besonderem Einsatz. In seiner Jacken­tasche befindet sich ein dickes Bund mit Haustürschlüsseln. Der Mann hat sich das Vertrauen verdient. Zu den speziellen Sonderaufgaben gehören die Mitnahme von Müllbeuteln, Blumengießen während der Ferien, persönliche Botschaften an andere Anwohner, kleinere Besorgungen und Lieferung von Briefmarken an jene, die nicht mehr so gut zu Fuß sind.

Manchmal kann Klönschnack Seelenpflege sein. Dass in seinem Fall nomen gleich omen ist und Engel über ein in jeder Beziehung starkes Herz verfügt, ist am Elbhang bekannt. Dass sich eine alte Dame tagelang nicht blicken ließ, merkte nur er. Sanitäter konnten sie retten. Denn die Frau lag mit Oberschenkelbruch hilflos in ihrer Wohnung. „Ich bin nicht nur Postzusteller, sondern auch Psychologe, Psychiater und Mädchen für alles“, sagt er. Fofftein bei Ahrberg macht er heute nur ausnahmsweise. Sonst bleibt keine Zeit für längere Verschnaufpausen: Der Job muss erledigt werden. Und die Zeit wird immer knapp. Meist ist zwischen 14 und 15 Uhr Feierabend, bisweilen später.

Kurz nach fünf Uhr in der Früh verabschiedet sich der Familienvater von der ihm seit fast vier Jahrzehnten angetrauten Erika, verlässt seine Wohnung in Altona-Nord, fährt mit Bus und S-Bahn nach Blankenese. Um 6 Uhr ist Schichtbeginn bei der Post in der dortigen Bahnhofstraße.

Dann ordnet Jochen Engel die vorsortierte Post und schultert seine schwarze Austrägertasche. 20, manchmal 30 Kilogramm kommen schnell zusammen, im Winter mehr, im Sommer weniger. Natürlich hat er eine Karre. Theoretisch. Doch ist ein solches Ge-fährt im Treppenviertel mit der steilen, verwinkelten Wegführung nicht zu gebrauchen. Hilfreich ist die Anlieferung weiterer Postberge in drei grauen Verteilerkästen auf der Strecke. Das übernehmen Kollegen. Engel erledigt dann die Feinarbeit.

Im Revier mit rund 700 Haushalten hat er Heimspiel. Kein Hinterhof, keine Abkürzung sind ihm fremd. Und bei Hochwasser nimmt er die Schuhe in die Hand, krempelt die Hosenbeine hoch, legt unverdrossen los, an fünf Arbeits­tagen in der Woche. „Das ist mein Leben“, sagt er beim letzten Schluck Kaffee. „In einem anonymen Umfeld ohne zwischenmenschliche Kontakte wäre ich verloren gewesen.“ Auch nach seinem 65. Geburtstag möchte er deshalb hin und wieder als Aushilfe einspringen. Die Blankeneser werden „ihren“ Briefträger also weiterhin zu sehen bekommen. Woher dieser seine Kraft schöpft, ist ein Rätsel. Vielleicht macht sich das frühere Fußballtraining bemerkbar?

Ein so ausgefallener, von Charme und kernigem Naturell geprägter Mann mit einem wahrhaftig herausragenden Aufgabengebiet, fällt auf. RTL, SAT.1 und der NDR berichteten mehrfach über den Dauerläufer mit postalischem Hoheitsgebiet. Gut und gerne 15 Millionen Sendungen, hat er jüngst mal spaßeshalber überschlagen, stellte er in den vergangenen 43 Jahren zu.

Engel hat rund 2000 alte Blankenese-Postkarten

Doch bevor Jochen Engel für heute Tschüs sagt, kommt er noch kurz auf sein Hobby zu sprechen. Der Briefträ-ger sammelt Postkarten – was sonst. Aus Blankenese müssen sie sein – was sonst. Etwa 2000 Exemplare archiviert er daheim in Karteikästen. Beuteplätze sind Flohmärkte, Tauschbörsen oder das Internet. Und manchmal verschenkt ein dankbarer Anwohner des Treppenviertels ein uraltes Exemplar. Und zumindest das wird auch so bleiben.