Berlin.

„Ob der Philipp heute still, wohl bei Tische sitzen will?“, fragt sich der Vater vom Zappelphilipp zu Beginn des Gedichts von Heinrich Hoffmann. Er wird enttäuscht werden: Philipp zappelt und kippelt mit dem Stuhl, bis er fällt. Er reißt das Tischtuch mit sich – das Abendessen ist dahin.

Heute wird das Gedicht oft als Beschreibung eines Kindes mit ADHS gelesen, einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder eben dem Zappelphilipp-Syndrom. Das Zappeln, die Unruhe sind allerdings nur einige Anzeichen von vielen, die die neuropsychologische Störung kennzeichnen. ADHS-Betroffene sind oft unaufmerksam, können sich schlecht konzentrieren und ihre Gefühle nur schwer kon­trollieren. Die genauen Ursachen sind unklar. Fachleute vermuten sowohl genetische als auch Umwelteinflüsse. Die Störung zieht häufig Schwierigkeiten in der Schule, in Familie und sozialem Umfeld nach sich. Auch Erwachsene können noch unter ADHS leiden. Studien zufolge seien in Deutschland zwischen fünf und sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen. Bei den Erwachsenen sind es zwischen drei und fünf Prozent.

Medikamente sollen die Symptome lindern

Wie stark welche Symptome bei Patienten auftreten, ist sehr unterschiedlich. Auch deshalb sind Diagnose und Behandlung von ADHS kompliziert. Nun haben Fachleute eine neue Leitlinie vorgestellt, die Ärzten aktualisierte Empfehlungen für die Betreuung von ADHS-Patienten an die Hand gibt.

Eine der wesentlichen Neuerungen: Künftig sollen auch für Kinder mit einer mittelschweren ADHS früh im Therapieverlauf Medikamente wie Ritalin erwogen werden. Ritalin soll die ADHS-Symptome lindern. Bisher wurde eine unmittelbare Behandlung mit Medikamenten vorrangig für Kinder mit einer starken Ausprägung der psychischen Störung empfohlen.

„Die Auswertung der aktuellen Datenlage hat gezeigt, dass die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie auf die Kernsymptome der ADHS nicht sicher belegt ist, in der Praxis die Symptomatik häufig nicht ausreichend gebessert wird“, sagt Tobias Banaschewski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) hat die Erstellung der Leitlinie, an der Vertreter von mehr als 30 Fachgesellschaften und -verbänden beteiligt waren, koordiniert.

Mit der Neufassung hat sich die Expertenkommission ein Stück weit dem angepasst, was in der Behandlung schon üblich ist, nämlich auch mittelschwere ADHS-Störungen mit Medikamenten zu behandeln. Für ADHS-Patienten und ihre Familien wird sich mit der neuen Leitlinie also vermutlich wenig ändern.

Die explizite Ausweitung der medikamentösen ADHS-Behandlung dürfte dennoch manchen Kritiker auf den Plan rufen. Einige Fachleute fürchten, dass die Medikamente zu häufig verordnet werden. Zumindest bei einem Teil der Kinder seien Überforderung, Stress oder andere Erkrankungen für Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich. Zum Teil seien sie im Rahmen der kindlichen Entwicklung auch normal. So haben etwa Studien gezeigt, dass früh eingeschulte Kinder häufiger eine ADHS-Diagnose bekommen – ihr Verhalten werde mit dem der reiferen Kinder verglichen und eher als auffällig empfunden, vermuten die Wissenschaftler.

Schaut man auf die Zahlen, hat zumindest in den vergangenen zehn Jahren die Verschreibung von ADHS-Medikamenten in Deutschland nicht zugenommen. Seit 2012 sind die verordneten Tagesdosen für Methylphenidat – den Wirkstoff von Ritalin, dem mit Abstand am häufigsten verschriebenen Präparat – rückläufig, wie Daten zu den von niedergelassenen Ärzten verordneten und über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechneten Arzneimitteln zeigen.

Beim erst 2013 zugelassenen Wirkstoff Lisdexamfetamin, der wesentlich seltener verordnet wird, ist hingegen eine Zunahme festzustellen. Obwohl es laut dem Gemeinsamen Bundesausschuss, der unter anderem den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmt, keinen Hinweis auf einen zusätzlichen Nutzen des deutlich teureren Wirkstoffs gibt.

Viele behandelnde Ärzte und Therapeuten halten eine generelle Ablehnung einer medikamentösen Behandlung für falsch. „Ich würde es quasi als Kunstfehler ansehen, ADHS-Patienten Medikamente vorzuenthalten“, sagt etwa Ralph Schliewenz, Diplom-Psychologe aus Soest und Mitglied im Vorstand der Sektion Klinische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP). Allerdings: „Keine Medikation ohne begleitende Psychotherapie“, betont Schliewenz. „Medikamente wirken immer nur so lange, wie man sie nimmt. Sie allein können die mit ADHS einhergehenden Probleme nicht beseitigen.“

Diese Praxis bildet auch die neue Leitlinie ab. Eine Verhaltenstherapie werde weiterhin begleitend bei allen Schweregraden der ADHS empfohlen, sagt Banaschewski. Auch der Psychoedukation, die Betroffenen und Eltern Strategien für den Umgang mit ADHS vermitteln soll, werde nach wie vor ein hoher Stellenwert eingeräumt, sie soll Bestandteil jeder Behandlung sein.

Genereller Anstieg der Diagnosen nicht erkennbar

„Wir sind, was die medikamentöse Therapie anbelangt, deutlich zurückhaltender als etwa Großbritannien“, sagt Banaschewski. „Wir wollen nicht einer Entwicklung Vorschub leisten, dass irgendwann alle Kinder mit ADHS mit Medikamenten behandelt werden.“ Sorgen vor unerwünschten Langzeitfolgen der Medikamente sind laut Banaschewski dennoch unbegründet: „Die verfügbaren Studien zeigen, dass die medikamentöse Behandlung das Risiko für Unfälle, Substanzmissbrauch oder Suizid im späteren Leben herabsetzt. Nach allem, was wir wissen, helfen die Medikamente mehr, als dass sie schaden.“

Einstimmig betonen die Experten die Notwendigkeit von ausgesprochener Sorgfalt schon bei der Diagnose. „Das Problem ist, dass die Leitsymptome der ADHS auch bei vielen anderen psychia­trischen Erkrankungen vorkommen können, etwa bei Depressionen oder Angststörungen“, sagt Schliewenz. Andere Gründe für bestehende Probleme müssten stets erwogen und berücksichtigt werden. „Die Diagnose sollte etwa ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen oder ein speziell dafür ausgebildeter Kinderarzt“, sagt Tobias Renner von der Psychiatrischen Klinik des Universitätsklinikums Tübingen. Die Befragung von Eltern, die Berücksichtigung der schulischen Entwicklung oder die Auswertung von speziellen Fragebögen seien dann Mosaiksteine, aus denen die Diagnose zusammengesetzt werde.

Wie viele Kinder zu Unrecht eine ADHS-Diagnose bekommen oder wie viele Kinder trotz bestehender Störung nicht behandelt werden – dazu gibt es wenig Erkenntnisse. Ein genereller Anstieg der ADHS-Diagnosen ist in Deutschland nicht erkennbar, wie der Versorgungsatlas zeigt, eine Einrichtung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland. Demnach bekamen im Jahr 2009 4,1 Prozent der Versicherten eine ADHS-Diagnose, 2016 waren es 4,3 Prozent.