Berlin.

259 Tage fehlte Manuel Neuer, Torhüter der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Trotz eines erneuten Bruchs des Mittelfußes schaffte es Neuer doch noch zur WM in Russland – nicht zuletzt dank der Arbeit des medizinischen Stabes von Bayern München und des Nationalteams. Dort wirkte über viele Jahre auch der Physiotherapeut Oliver Schmidtlein (52). Unter Trainer Jürgen Klinsmann war er in München verantwortlicher Fitness- und Rehatrainer, er entwickelte das Physioprogramm der DFB-Elf während der WM 2006. Seine Warnung: Die Zahl der Verletzungen steigt, die Regenerationspausen von Profis werden kürzer.

Herr Schmidtlein, was macht die Sportart Fußball mit den Körpern von Spielern?

Oliver Schmidtlein: Fußball an sich ist eine Sportart, die viele positive Dinge mit sich bringt – Spaß, Interaktion, Reaktion. Doch wird er als Leistungssport betrieben, muss man ganz klar sagen: Fußball verschleißt den Körper. Ich habe über viele Jahre Sportler am Anfang, in der Mitte und auch am Ende ihrer Karriere kennengelernt und betreut. Und ich habe gesehen, welche Spuren diese Sportart an Körpern hinterlässt.

Statistiken aus der abgelaufenen Bundesliga-Saison nennen Muskelverletzungen als häufigste Verletzungsart. Dabei sind sie doch am einfachsten zu verhindern, oder?

Das ist richtig. 80 Prozent der Verletzungen geschehen ohne äußere Einwirkungen. Muskelverletzungen stehen dabei an erster Stelle, und das tun sie bereits seit vielen Jahren. Das ist für mich auch logisch, denn sieht man den Muskelapparat als Ganzes, dann ist er das am meisten belastete Körperteil beim Fußball. Ja, es stimmt, dass derartige Verletzungen vermeidbar sind, zum Beispiel durch Präventionsmaßnahmen. Doch darüber, wie Verletzungen entstehen, wissen wir noch nicht alles. Da gilt es, weiter zu forschen.

Wie können sich Spieler schützen?

Jeder Spieler hat ein Profil, in dem seine Schwachstellen benannt werden können. Zum Beispiel Körperteile oder Gelenke, die sehr unbeweglich sind, oder Gelenke, die durch Verletzungen oder Veranlagung instabiler sind, als sie es sein sollten. Um so ein Profil zu erstellen, gibt es Tests, mit deren Hilfe man die Funktion beurteilt. Betroffen sind hier zum Beispiel Segmente der Wirbelsäule oder Körperteile wie das Becken, die Hüftgelenke oder die Sprunggelenke. Präventionsmaßnahmen können dann spezielle Übungen sein oder gezielte Mobilisationsgriffe durch einen Therapeuten.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen häufigen Verletzungen und einem immer volleren Terminkalender der Spieler?

Dazu müsste man sich in der Statistik genauer anschauen, ob die von Verletzungen betroffenen Spieler auch wirklich die meisten Spiele absolviert haben. Ich glaube, dass wir mit der Interpretation der Statistiken vorsichtig sein sollten. Wir haben heute viel mehr Zahlen zu Verletzungen als vor zehn oder 15 Jahren. Damals meldeten die Vereine den Berufsgenossenschaften lediglich die Verletzungen, die infolge eines Unfalls aufgetreten waren. Muskelverletzungen traten da in den Hintergrund, obwohl es sie natürlich gab. Von außen sieht es deswegen so aus, als ob es heute viel mehr Verletzungen infolge von Überlastung gibt.

Aber hat sich das Spiel in den vergangenen Jahren nicht grundlegend verändert? Es ist schneller geworden, intensiver.

Das ist es, ganz klar. Die Anzahl der Zweikämpfe, die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit, die Zahl der Sprints – das alles hat in den vergangenen 15 bis 20 Jahren deutlich zugenommen. Für mich aber ist das nicht die alleinige Erklärung, wenn Spieler häufiger verletzt sind. Was sich geändert hat: Verletzte Spieler kehren schneller wieder zurück. Die Verletzungen sind deutlich mehr geworden, aber der Zeitraum, in dem die Spieler ihren Klubs fehlen, hat sich verkürzt. Darin sehe ich einen Zusammenhang. Verletzungen werden möglicherweise nicht ausreichend auskuriert, die Spieler gehen ein höheres Risiko ein, erneut auszufallen.

Warum riskieren Spieler ihre Gesundheit?

Nehmen Sie Marco Reus oder andere Spieler, bei denen sich Verletzungen gehäuft haben. Gerade Leistungsträger stehen unter dem besonderen Druck, bei wichtigen Qualifikationsspielen oder Turnieren dabei zu sein. Da geht man ein höheres Risiko ein, weil der Körper auf Spitzenbelastung nicht vorbereitet ist. Das war früher möglicherweise nicht so, weil sich Spieler „verstecken“ konnten. Als Lothar Matthäus 1992 nach seinem Kreuzbandriss bei Bayern München wieder anfing, hat er sich acht, neun Spieltage lang immer dann auswechseln lassen, wenn er müde wurde, wenn die Muskulatur streikte. Spieler wie Lothar Matthäus oder Stefan Effenberg haben ihre Reha quasi selbst gesteuert und sie selbst entschieden. Sich mit halber Kraft durch eine Bundesligasaison zu schleppen, wäre heute undenkbar.

Sie sagen: Schmerzfrei zu sein ist etwas anderes, als fit zu sein. Was meinen Sie damit?

Nehmen wir die Muskelverletzung von Jérôme Boateng. Wenn der Arzt der Nationalmannschaft sagt, Boateng ist fit, dann meint er damit: Die verletzte Struktur ist völlig wiederhergestellt, geheilt. Ob Boateng körperlich fit ist, können nur zwei andere Mitglieder des Teams beurteilen: der Fitness-Coach und in oberster Instanz der Bundestrainer. Und der erwartet von dem Spieler mehr, als nur schmerzfrei auf dem Platz rumzustehen.

Welche Erkenntnis können Hobbysportler daraus ziehen?

Ein Vergleich fällt nicht leicht. Profis werden von einem Stab aus Ärzten, Physiotherapeuten und auch Psychologen perfekt betreut. Doch gibt es auch Dinge, die sich übertragen lassen. Ein Beispiel: Wer als Amateursportler eine Bänderverletzung im Sprunggelenk erlitten hat, sollte sich in der Phase der Wundheilung nicht mehr nur fragen, ob der Fuß stabil ist, sondern was eigentlich mit dem Rest des Körpers ist.

Ich hatte vor einigen Jahren mit einem Spieler zu tun, der sich wegen einer Verletzung am Handgelenk einer Operation unterziehen musste. Ihm wurde eine Platte eingesetzt, er verpasste einige Trainingseinheiten. In dem wichtigen Spiel zehn Tage später verletzte er sich dann an der Wade. Mein Rat an Freizeitsportler ist: Halte bei einer Verletzung den Rest deines Körpers in Bewegung. Wer am Sprunggelenk verletzt ist, kann die Zeit nutzen, um etwa die Bauch- oder Rückenmuskulatur zu trainieren. Das belastet nicht den Fuß und hilft, schneller wieder in den Sport zurückzukehren.

Ist die deutsche Nationalmannschaft fit, um bei der WM zu bestehen?

Für die Fußballprofis ist es eine wahnsinnig lange Saison. Nehmen wir Topspieler wie etwa Thomas Müller von Bayern München, der zwischen 50 und 64 Spiele bestritten haben dürfte. Was das Körperliche angeht: Sind die Spieler unter 30, dann packen die das noch ganz gut, die Fähigkeit zur Regeneration ist noch gut. Man darf aber nicht vergessen: Jeder dieser 23 Jungs hat eine Blessur mitgebracht aus der zurückliegenden Saison. Das geht natürlich allen anderen Nationalteams genauso. Das Entscheidende aber ist: Wir haben die besseren Betreuer.