Moskau. Weltmeister Deutschland muss Brasilien, Argentinien, Spanien und Frankreich fürchten. England und Belgien haben Außenseiterchancen

    Fragt man Bundestrainer Joachim Löw nach den gefährlichsten Konkurrenten auf dem Weg zur Titelverteidigung, nennt er fünf Namen: „Argentinien mit der unglaublichen Offensivkraft. Spanien nach wie vor. Brasilien ist wiedererstarkt. Und ich würde auch die Engländer nicht vergessen.“ Dazu komme Frankreich. Und – das sagt Löw nicht – Belgien. Das ist er: Der allgemein anerkannte Kreis der Favoriten.

    Die Argentinier haben es Löw angetan. Falls jemand wagen sollte, in seiner Gegenwart von den deutschen Möglichkeiten in der Offensive zu schwärmen, dann beginnt Löw das mögliche Personal Argentiniens aufzuzählen: Angel di Maria, Paulo Dybala, Sergio Agüero, Gonzalo Higuain – und vorneweg natürlich Lionel Messi. In diesem Sommer wird er 31 Jahre alt. Ein Titel blieb ihm auf der größten Bühne bislang verwehrt. Schuld daran: hauptsächlich die Deutschen. Bei den letzten drei Weltmeisterschaften scheiterte Argentinien stets an Löw und Co. (2006 und 2010 im Viertelfinale, 2014 im Finale). Erst in letzter Sekunde konnte sich Argentinien diesmal qualifizieren und musste im März eine historische 1:6-Niederlage gegen Spanien hinnehmen.

    Spanien spielt wieder wie das Spanien aus einer zu Ende gegangenen Ära. 2008 Europameister, 2010 Weltmeister, 2012 Europameister – dann der Absturz in Brasilien, als in der Vorrunde Schluss war. Trainer Julen Lopetegui gelang es, ein Team zusammenzustellen, in der Legenden wie Andres Iniesta und Adrian Ramos ihren Platz haben, an deren Seite aber auch junge Spieler für eine frische Brise sorgen. Das Testspiel im März gegen Deutschland (1:1) geriet zu einem Plädoyer für schönen Fußball.

    Wie negativ sich allerdings der Rauswurf von Lopetegui nach Bekanntwerden seines Wechsels zu Real Madrid kurz vor dem WM-Start auswirkt, lautet nun die spannende Frage.

    Dass auch Brasilien zu den Titelanwärtern gehört, liegt weniger an Ästhetik, denn an neuer Sachlichkeit. Nationaltrainer Tite übernahm die Mannschaft im Juni 2016 nach dem blamablen Vorrunden-Aus bei der Copa America von Carlos Dunga. Da stand der Rekord-Weltmeister in der Qualifikationsrunde für Russland mit nur zwei Siegen aus sechs Spielen auf Rang sechs und drohte das Ticket zum Turnier erstmals zu verpassen. „Bei meinem Amtsantritt war der Druck ein komplett anderer: Brasilien irgendwie zur WM zu bringen“, erinnert sich Tite an die Anfänge. Gelassen kann er zurückblicken, weil seine Mannschaft danach in der Qualifikation kein Spiel mehr verlor und als erstes Team die Startberechtigung für Russland herbeispielte. Tite gelang es, die offensive Lust seiner Spieler mit einer verlässlichen defensiven Organisation auszustatten. Zu sehen war dies bei besagtem 1:0-Sieg gegen die Deutschen in Berlin im März, das der Selecao einen Teil des Stolzes zurückbrachte, weil es das 1:7-Trauma von 2014 tilgte.

    Nicht zu sehen war dabei Superstar Neymar, weil der Offensivkünstler wegen eines Fußbruchs unpässlich war. Bei der WM wird er wieder fit sein. Es gehört zu Tites Leistungen, dass sich seine Mannschaft emanzipiert hat von den Individualleistungen Neymars, der in Paris bei Saint-Germain spielt und dort einen recht guten Blick auf das hat, was in Frankreich gedeiht: Womöglich eine neue Weltmeister-Generation.

    Englands Nachwuchs gewann 2017 fast alle großen Titel

    Die Equipe Tricolore gewann den WM-Titel 1998 mit einer Mannschaft um Zinedine Zidane, die Legendenstatus erlangte. Auch Didier Deschamps war dabei, seit 2012 Nationaltrainer Frankreichs . Er kann aus einem endlos scheinenden Reservoir an Talenten und Stars verfügen. Das ist Fluch und Segen zugleich. Mit Kylian Mbappé – 19 Jahre alt und für 180 Millionen Euro Ablöse von Monaco zu Paris Saint-Germain transferiert – sowie Ousmane Dembélé – 21 Jahre alt und vor einem Jahr für weit über 100 Millionen Euro von Borussia Dortmund zum FC Barcelona gewechselt – sowie Antoine Griezmann (noch Atletico Madrid) verfügt er über die beeindruckendste Offensive.

    Über eine stabile Einheit verfügt er trotz der Innenverteidiger Raphael Varane (Real Madrid) und Samuel Umtiti (FC Barcelona) sowie Mittelfeldkönner Paul Pogba (Manchester United) nicht. Immer wieder gerät die Defensive ins Wanken und präsentiert sich das Team nur als Ansammlung von Einzelkönnern. Deschamps sagt: „Wie sind keine Favoriten, aber wir haben Ambitionen.“

    Noch demütiger begibt sich England Richtung WM. „Wir müssen realistisch sein. Um die WM zu gewinnen, bräuchte es ein Wunder“, sagt Nationalspieler Kyle Walker. Auch die englische Presse befindet sich nicht gerade im Jubelrausch. Die englischen Fans, schreibt das Boulevardblatt „The Sun“, sollten vor ihrer Abreise nach Russland lieber „nicht zu viele Unterhosen“ einpacken.

    Dabei gibt das Jahr 2017 größten Anlass zu Optimismus. Die U17 und die U20 wurden Weltmeister, die U19 gewann die EM, die U21 scheiterte dort erst im Elfmeterschießen an – natürlich – Deutschland. Ob die neue Generation irgendwann wieder eine WM gewinnen kann? 1966 schaffte England das einmal. Die Sehnsucht ist groß. Genau wie in Belgien, einer weiteren Mannschaft, der man den großen, überraschenden Coup zutrauen könnte, die aber noch öfter scheiterte als England. Merke: Nicht alle Dinge, die immer gleich bleiben, geben Halt und Kraft.