Berlin. Weltmeisterkapitän Philipp Lahm über Erinnerungen an die WM 2014, die Chancen in Russland und Nachfolger Joshua Kimmich

    Den Fußball vermisse er nicht, sagt Philipp Lahm. Der 34-Jährige, der nach dem deutschen WM-Triumph in Brasilien 2014 als Kapitän aus der Nationalelf zurücktrat, hat sich schnell in sein Leben nach der Karriere eingefunden. Er ist nun Unternehmer und Botschafter der deutschen EM-Bewerbung für 2024. Aber manchmal, da kommen die Bilder zurück. Das Götze-Tor zum Finalsieg gegen Argentinien, der blutende Schweinsteiger, der in den Nachthimmel des Maracana gehobene, goldene WM-Pokal. Lahm trägt sie mit sich, wenn er nun bei der WM in Russland vier Tage lang zur offiziellen Delegation des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) gehören wird. Im Abendblatt spricht der Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft über seine Erinnerungen an Brasilien, warum Deutschland nun in Russland den Titel verteidigen kann und seine besondere Beziehung zu Bundestrainer Joachim Löw.

    Herr Lahm, träumen Sie eigentlich manchmal vom WM-Finale?

    Philipp Lahm: Nein, ich träume nicht davon. Es ist ja alles wirklich passiert. Aber ich habe hin und wieder noch Bilder von der WM im Kopf.

    Welche sind das?

    Ganz unterschiedliche. Das Finale natürlich, oder das 7:1 gegen Brasilien, daran denke ich schon manchmal noch.

    Begegnet Ihnen im Hause Lahm irgendwas, das Sie an den WM-Titel erinnert?

    Ja. Ich habe einen Raum, in dem ich alle Andenken aus meiner aktiven Zeit aufbewahre. Von der WM habe ich einen kleinen Pokal, ein Trikot mit allen Unterschriften, die WM-Medaille und das Fotobuch „One Night in Rio“. Aber wissen Sie, das Schöne an diesem Erfolg sind nicht die Bilder, die man aufbewahrt. Es sind die Bilder im Kopf. Alle, die Spieler, aber auch alle Fans werden bis zu ihrem Lebensende die Bilder von Brasilien im Kopf tragen.

    Welche genau sind das bei Ihnen?

    Ich weiß noch, wie wir nach dem gewonnenen Finale die Stadiontreppen hochgingen, um unsere Medaillen in Empfang zu nehmen. Und unten standen all unsere Betreuer Spalier für uns. Das ist für mich ein Gänsehautmoment, den ich niemals vergessen werde. Ich war zehn Jahre Nationalspieler. Die Betreuer haben in dieser Zeit so hart dafür gearbeitet, dass wir Leistung bringen konnten. Sie so glücklich zu sehen, war einfach schön. Ich wusste ja in diesem Moment schon, dass es mein letztes Länderspiel gewesen ist.

    Ein Bild, das in Erinnerung geblieben ist, war wie die Mannschaft in Berlin gefeiert hat. Alle mit Sonnenbrillen. Waren da eigentlich alle noch betrunken?

    Durch die Rückreise aus Brasilien lagen ja eigentlich schon zwei Nächte zwischen Finale und Ankunft. Also sollten alle schon wieder einigermaßen nüchtern gewesen sein. (lacht) Aber die Feier nach dem Finale war natürlich toll. Wenn am Ende einer so langen Reise ein solcher Titel steht, ist das schon Wahnsinn. Auf dem Flug nach Berlin haben jedenfalls fast alle geschlafen. (lacht)

    Gab es einen Schlüsselmoment für Sie bei der WM, als Sie wussten: Diesmal kann es wirklich klappen?

    Ich war eigentlich vom Start weg zuversichtlich. Es hatte sich etwas entwickelt in dieser Mannschaft und wir hatten eine große Qualität. Einen einzigen Schlüsselmoment kann ich kaum benennen. Das 4:0 gegen Portugal zum Start war ein Schlüsselmoment, aber auch das 1:0 gegen die USA, als wir unter Druck standen. Beim 1:0 gegen Frankreich im Viertelfinale haben wir nicht so gut gespielt, hatten auch Glück. Im Nachhinein muss man sagen, dass man während einer WM in ganz vielen Momenten auch das nötige Glück braucht.

    Warum ist im Campo Bahia dieser besondere Teamgeist entstanden, von dem oft die Rede war?

    Vielleicht, weil das ein ganz besonderes Camp war. Wir Spieler haben uns ja in unterschiedliche Häuser aufgeteilt, waren aber immer zusammen: in Aufenthaltsräumen, bei den Betreuern, zum Kartenspielen oder in der Lobby, um ein WM-Spiel zu schauen. An diesem Ort ist ein Zusammenhalt entstanden, der uns im Turnier geholfen hat.

    Sie haben von den Bildern im Kopf gesprochen. Viele, die an die WM 2014 denken, sehen sofort das 7:1 gegen Brasilien vor Augen. Kann man ein solch irreales Spiel auf dem Platz genießen?

    Doch, ich konnte das genießen. Wir hatten das Glück in Anführungsstrichen, dass wir ein paar Monate zuvor in Berlin 4:4 gegen Schweden gespielt haben, nachdem es 4:0 für uns stand. Das war noch in unseren Köpfen, auch als wir mit 5:0 in die Halbzeitpause gegangen sind.

    Stimmt es, dass Bundestrainer Joachim Löw in der Halbzeit gesagt hat: Wer jetzt den Gegner vorführt, der spielt im Finale nicht?

    So direkt nicht. Aber es war der Tenor vom Trainer und von der Mannschaft: Den größten Respekt zollen wir den Brasilianern, wenn wir einfach so weiterspielen. Und das haben wir auch gemacht. Ich finde, wir waren ein guter Gast, denn wir haben uns tadellos verhalten.

    Sie sind dann ins Finale eingezogen. Dort wurde der blutende Bastian Schweinsteiger zum Sinnbild des Siegeswillens. Haben Sie das auf dem Platz mitbekommen?

    Ja. Wir haben seit ganz früher Jugend zusammengespielt. Ich wusste, dass ich mir keine Sorgen machen muss. Wenn man etwas Großes erreichen will, braucht man Spieler, auf die man sich immer verlassen kann und die in wichtigen Spielen zeigen, dass sie Verantwortung übernehmen. Basti war so ein Spieler. Ich wusste, da muss schon viel passieren, dass er vorzeitig vom Platz geht.

    Hätten Sie Ihre Nationalelf-Karriere fortgeführt, wenn Sie das Finale gegen Argentinien verloren hätten?

    Nein. Auch, wenn wir das Achtelfinale verloren hätten, wäre es vorbei gewesen für mich.

    Es hätte sich dann sicher nicht vollendet angefühlt…

    Das stimmt, deshalb bin ich sehr dankbar, dass ich meine Nationalelf-Karriere mit dem Titel beenden konnte. Aber ich habe es davon nicht abhängig gemacht.

    Nun steht wieder eine WM an. In der Nationalelf und auch beim FC Bayern gilt mittlerweile Joshua Kimmich als Ihr Nachfolger. Was gefällt Ihnen an ihm?

    Ich schätze ihn für das, was er täglich leistet. Er hat eine wahnsinnig gute Einstellung – im Training und in den Spielen. Und man sieht, dass er sehr anpassungsfähig ist, was die Position angeht. Er hat eine große Qualität.

    Seit Brasilien 1962 hat es kein Weltmeister geschafft, seinen Titel zu verteidigen. Warum kann es Deutschland gelingen?

    Weil diese Mannschaft wieder sehr gut besetzt ist und das Trainerteam um Joachim Löw sie wieder sehr gut einstellen wird. Deshalb sage ich: Deutschland kann den Titel verteidigen. Auch wenn es schwer wird.

    Sie haben mit Löw über viele Jahre zusammen gearbeitet. Verband Sie eine besondere Beziehung?

    Fakt ist, dass uns der WM-Titel unser Leben lang verbinden wird – aber nicht nur uns, sondern alle Spieler. Wir haben das gemeinsam geschafft, und wenn wir uns irgendwann in ein paar Jahren mal wieder alle treffen, werden wir uns darüber immer noch freuen.

    Sie sind nun kein Spieler mehr. Beim DFB haben Sie die Rolle des Botschafters für die EM-Bewerbung 2024 übernommen. Warum wäre das Turnier gut für Deutschland?

    Ich selbst habe 2006 miterlebt, wie schön es war, Menschen aus vielen Ländern bei uns zu begrüßen. Wir waren ein weltoffener, freundlicher Gastgeber. Ich denke, Deutschland sollte alle 15 oder 20 Jahre ein Fußballfest ausrichten. Das war 1974 so, 1988 auch und eben 2006. Jetzt ist es wieder so weit. Es bringt die Menschen in diesem Land zusammen und lässt alle teilhaben. Es schafft ein neues Gemeinschaftsgefühl. Deswegen wäre die EM 2024 gut für Deutschland.

    Sie haben die WM 2006 angesprochen. Es hat sich mittlerweile gezeigt, dass nicht alles mit rechten Dingen zuging damals. Vor diesem Hintergrund: Wie wichtig ist Glaubwürdigkeit beim Unterfangen, die EM 2024 nach Deutschland zu bringen?

    Glaubwürdigkeit und Transparenz sind sehr wichtig. Man muss sich an Regeln halten. Ich bin mir sicher, dass beim DFB alle so denken.

    Sie geben Ihr Gesicht für die Bewerbung. Können Sie versichern, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist, sollte Deutschland den Zuschlag erhalten?

    Dafür stehe ich. Ich habe immer Regeln auf dem Platz eingehalten. Jeder weiß, dass ich kaum Gelbe oder Rote Karten in meiner Karriere gesammelt habe. Und so soll es nun auch bei der Bewerbung sein. Das kann ich versichern.