Kolkata.

Ernährungswissenschaft­lerin Sweta Banerjee hat hart für dieses Projekt gekämpft: Vor allem auf ihre Initiative hin ist die sogenannte „Child Growth Monitor App“ entwickelt worden. Das Miniprogramm fürs Smartphone wird derzeit in Indien getestet – und könnte dazu beitragen, Mangelernährung bei Kindern in Zukunft frühzeitig zu erkennen.

Entstanden ist die Idee im letzten Jahr. Banerjee, tätig für die Welthungerhilfe im indischen Kolkata, reiste zu einem Innovationscamp in die indische Hauptstadt Delhi. Dort war sie Teil einer Arbeitsgruppe um den deutschen Software-Entwickler Markus Matiaschek. Die Gruppe beschäftigte sich mit der Frage, ob man im Kampf gegen Hunger auch vorbeugend tätig werden kann. Plötzlich habe die Vorstellung dieser App im Raum gestanden, erinnert sich die 54-Jährige. Und Banerjee, seit 20 Jahren im Gesundheitswesen beschäftigt, dachte: „Die brauchen wir.“ Sie fuhr zurück nach Kolkata und überzeugte ihre Kollegen.

Millionen Kinder sterbenan Unterernährung

Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef sterben jährlich weltweit etwa drei Millionen Kinder im Alter von null bis fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Obwohl Indiens Wirtschaft stark wächst und das Bruttosozialprodukt seit 1991 um 50 Prozent gestiegen ist, lebt in dem Land in Südasien mehr als ein Drittel der mangelernährten Kinder. Von diesen ist die Hälfte der bis zu Dreijährigen untergewichtig, während ein Drittel der Kinder, die gut situiert aufwachsen, übergewichtig ist.

Die „Child Growth Monitor App“ dient in erster Linie der zuverlässigen Datenerhebung: Bislang mussten die Kinder von Hand gewogen und gemessen werden, was Fehler begünstigt und nicht nur bei lebhaften Jungen und Mädchen schwierig ist. Die moderne Technik soll das Messverfahren vereinfachen und präzisieren.

Smartphones der neueren Generation verfügen neben einer Kamera auch über einen Infrarot-Sensor. Dank der neuen App können sie einen 3-D-Scan des Kindes erstellen. Durch diesen lässt sich der Ernährungsstatus erfassen. Die von der App erfassten Daten werden dann von Ernährungswissenschaftlern ausgewertet und die Ergebnisse wieder in die App eingespeist. So soll die Anwendung – ein lernendes System – in Zukunft als Detektor für Ernährungsfehler fungieren und sogar Vorschläge machen, welches Nahrungsmittel die Kinder konkret bekommen sollten. Besonders in den Dörfern Indiens, in denen potenzielle Nahrungsmittel wie Waldfrüchte, Wurzeln oder Pilze oft aus Unwissenheit an Tiere verfüttert werden, könnte die App aufklärend wirken.

Knapp ein Jahr nach den ersten Entwürfen ist das Miniprogramm so weit gediehen, dass die Welthungerhilfe es im Mai auf der Digitalkonferenz Republica in Berlin vorstellte. Gemeinsam mit IT-Entwickler Matiaschek erläuterte Banerjee die Funktionsweise, die auf künstliche Intelligenz setzt. Die Software ist öffentlich und von Dritten einsehbar. Irgendwann soll sie auch in Afrika und Lateinamerika zum Einsatz kommen. Um eine möglichst breite Anwendung zu gewährleisten, „muss natürlich sichergestellt werden, dass der Infrarot-Scanner irgendwann auch auf älteren Smartphones eingerichtet werden kann“, sagt Banerjee. Ein erster Test läuft derzeit in den Slums von Mumbai. An 10.000 Kindern in verschiedenen Regionen Indiens soll die App bis Herbst ausprobiert werden – darunter Maharashtra, Madhya Pradesh und Rajasthan.

Allein der Gedanke der Datenerfassung per Handy-App ist Banerjee zufolge ein kluger Schachzug: Sowohl in den Städten als auch bei der ländlichen Bevölkerung Indiens gehöre das mobile Telefon zur Grundausstattung. Nahezu jeder Inder wäre in der Lage, zur lokalen und damit sehr genauen Datenerhebung beizutragen und von der Auswertung zu profitieren. Und: Institutionen wie die Welthungerhilfe würden unabhängiger von lokalen Arbeitskräften. Gerade in entlegenen ländlichen Regionen sei deren Rekrutierung schwierig. Nach einer kurzen Schulung könne die Landbevölkerung selbst aktiv werden. „Die Daten gehörten dabei dem Kind und sind vor dem Zugriff der Regierung geschützt“, betont ITler Markus Matiaschek.

Ernährungswissenschaftlerin Banerjee wünscht sich aber eigentlich etwas anderes: Die Regierung sollte das Projekt zur Regierungssache erklären. Schließlich habe der amtierende indische Premierminister, Narendra Modi, „wiederholt das digitale Indien ausgerufen“. Die App könne im Kampf gegen Mangelernährung eingesetzt werden, aber auch gut situierten Eltern helfen, Ernährungsfehler zu verhindern. Eine breite Anwendung sei gewährleistet.

Darüber hinaus könnte der Scanner weitere positive Folgen haben. Denn bislang ist es nicht möglich, nachzuweisen, wann ein Kind an Hunger gestorben ist. Als Todesursache wird stets eine Sekundärerkrankung angegeben, die jedoch oft eine direkte Folge von Mangelernährung ist. So kommt es zu der rechtlichen Schieflage, dass es zwar ein Gesetz gibt, das den Tod von Kindern durch Hunger unter Strafe stellt, die juristische Verfolgung bislang jedoch nahezu unmöglich war. Lägen nun zuverlässige Daten vor, könnten in Zukunft Verantwortliche schneller ausgemacht und zur Rechenschaft gezogen werden, so Banerjee. Auch dies könnte ein Meilenstein in der Bekämpfung des Hungers sein.