Berlin.

Vor 20 Jahren, im April 1998, ließ die Europäische Union einen im Labor erzeugten Mutanten auf ihre Bürger los. Die gentechnisch veränderte Maissorte Mon810 durfte fortan auch auf europäischen Feldern wachsen. Bis heute ist es der einzige gentechnisch veränderte Organismus – kurz GVO –, der diese EU-Erlaubnis hat. Der vom Saatgut-Produzenten Monsanto entworfene Mais, nach der Übernahme der US-Firma durch den Pharmakonzern Bayer in der letzten Woche ein deutsches Produkt, sprießt fast ausschließlich in Spanien. Viele andere Europäer nutzten ein EU-Schlupfloch für nationale Anbauverbote – auch Deutschland. 64 gentechnisch veränderte Organismen dürfen derzeit nach Europa importiert werden. Auch hier gibt es nationale Ausnahmen. Die meisten sind Mais- und Sojapflanzen, die als Futter in der Landwirtschaft landen. Auf dem Fleisch der Tiere muss das nicht vermerkt sein, wohl aber auf Lebensmitteln, die aus GVO hergestellt wurden, zum Beispiel auf Ölen.

Normal in der Medizin, Angstfaktor auf dem Acker

Im Handel sind solche Gen-Produkte kaum zu finden, denn 80 Prozent der Deutschen lehnen sie ab, erklärt das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Im EU-Vergleich zählen sie zu den skeptischsten Völkern. Knapp 70 Prozent halten gentechnisch veränderte Lebensmittel laut einer EU-Umfrage aus dem Jahr 2010 für widernatürlich, 72 Prozent glauben, dass sie nicht sicher für künftige Generationen sind. Obwohl Gentechnik in der Medizin heute als selbstverständlich akzeptiert wird – beispielsweise bei der Herstellung von Insulin für Diabetiker – sitzt die Furcht vor ihrem Einsatz in der Ernährung tief. Warum eigentlich?

„Die deutschen Verbraucher haben ein sehr negatives Bild von der konventionellen Landwirtschaft – sie ist verknüpft mit Begriffen wie Pestiziden und Insektensterben. Sie lehnen Gentechnik bei der Lebensmittelherstellung mehrheitlich ab, weil sie das Gefühl haben, dass sie entwickelt wurde, um genau dieses System zu unterstützen“, versucht die Biologin Susanne Stirn zu erklären. An der Universität Hamburg untersucht sie unter anderem das Zusammenspiel von gesellschaftlichem Wandel und dem Einsatz moderner Biotechnologien in der Pflanzenzüchtung.

„Gentechnik ist für viele zu einem Angstwort geworden“, sagt der Pflanzenmolekulargenetiker Michael Metzlaff. Er koordiniert den Austausch mit wissenschaftlichen Einrichtungen für Bayer. Das Unternehmen besitzt nach der Monsanto-Übernahme nun die meisten EU-Importzulassungen für GVO. „Die Zivilgesellschaft müsste besser darüber aufgeklärt werden, was gentechnisch verändert überhaupt bedeutet. Der Nutzen ist vielen nicht klar.“

Mon810 etwa sei ursprünglich entwickelt worden, damit Landwirte auf bestimmte Insektenvernichter verzichten könnten. Forscher hatten den Schutz vor Fraßfeinden in die DNA der Pflanze eingebaut, in Form eines von dem Bakterium Bacillus thuringiensis geborgten Gens. Es erlaubt es der Familie der kleinen Organismen, über 200 Toxine zu bilden, die die Darmwände verschiedener Schädlinge zersetzen und diese verhungern lassen. Dank seiner genetischen Anpassung kann auch Mais der Sorte Mon810 den Larven seines Intimfeindes, dem Maiszünsler, ein Ende bereiten. Im Labor bearbeitete Verwandte von Mon810, etwa der Mais NK603, sind unempfindlich für einige Unkrautvernichter – während die Konkurrenz abstirbt, wachsen sie weiter.

Doch für die Mehrheit der Deutschen seien die Mutanten ein Widerspruch zum Öko-Landbau, den sich immer mehr wünschten, glaubt Stirn. „Es gibt eine idealisierte Vorstellung über die Lebensmittelproduktion. Viele denken an grasende Tiere und naturbelassene Felder.“ Eine wehrhafte Maispflanze passt nicht in dieses Bild. „Die Menschen fragen sich, ob man die langfristige Wirkung so einer Entwicklung wirklich abschätzen kann.“

„Es gibt die Befürchtung, dass diese Pflanzen sich, einmal ausgesetzt, unkontrolliert ausbreiten könnten“, meint Metzlaff. Doch langjährige Studien hätten die Sicherheit der Gen-Pflanzen bestätigt. In freier Wildbahn hätten sie keinen Überlebensvorteil, natürliche Kreuzungspartner fehlten. Das hatte auch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) 1997 vor der Zulassung von Mon810 erklärt. Der Mais schade weder Tier, Mensch noch Umwelt. Doch immer wieder legten die EU-Länder neue Studien vor, die diese Einschätzungen anzweifelten. Mon810 töte auch Marienkäferlarven, mache Mäuse weniger fruchtbar, seine Toxine reicherten sich im Boden an. Die Efsa prüfte, fand nach eigenen Angaben aber keine Hinweise auf diese Effekte.

Der Europäische Gerichtshof lehnte reihenweise Gesuche für Anbauverbote der Nationalstaaten ab, die auf solchen Sicherheitsbedenken beruhten. Erst seit 2016 können sie ein Schlupfloch nutzen, die sogenannte Opt-Out-Richtlinie. Dabei bitten einzelne Länder die Saatguthersteller, sie von Anbau-Zulassungsanträgen auszunehmen. Auch Deutschland machte davon Gebrauch. Der nächste Schritt – ein Anbauverbot – steht bislang aus, ist aber im Koalitionsvertrag vorgesehen, wie eine BMEL-Sprecherin auf Anfrage bestätigt.

„Die Politik hat die Gentechnik in diesem Bereich als ‚bösen Buben‘ gebrandmarkt, der am übermäßigen Einsatz von Pestiziden Schuld ist“, kritisiert Metzlaff das Vorhaben, „dabei ist es ein vorrangiges Interesse von Unternehmen, die Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten. Gentechnik kann dabei helfen.“ Sein Arbeitgeber hat mit Monsanto den wohl umstrittensten Akteur in der Diskussion um Pestizide übernommen. Der US-Konzern hatte Bedenken zu seinem Bestseller, dem Unkrautvernichter Glyphosat, stets als Außenseiter-Meinung bezeichnet. Ob sich Monsanto in deutscher Hand offener für Verbraucher-Ängste zeigt, bleibt abzuwarten. „Die Diskussion ist wichtig, und sie pauschal abzulehnen, ist bestimmt kein guter Weg“, sagt Metzlaff. Doch sie einzig auf Basis der Pestizidproblematik zu führen, sei zu kurz gedacht. „Gentechnischen Neuentwicklungen wird gar nicht erst eine Chance gegeben“, so der Genetiker. Ein Paradebeispiel seien allergenfreie Erdnüsse. „Jedes Jahr sterben Kinder an der Allergie, Gentechnik könnte das Problem lösen. Aber die Nüsse dürfen in Europa nicht angebaut werden. Ob sie es in den Handel schaffen würden, ist fraglich.“ So erginge es zahlreichen nützlichen Ideen.

Genfood-Gegner beurteilen Ankündigungen solcher Innovationen anders. „Die Hersteller haben nach über 30 Jahren Gentechnik auf den Äckern keines ihrer Versprechen wie höhere Erträge, trockenheits- oder salzresistente Pflanzen halten können“, kritisiert etwa der auf Gentechnik in der Landwirtschaft spezialisierte Grünen-Bundestagsabgeordnete Harald Ebner. „Bauern, Verbraucher, Hersteller und Handel in Deutschland wollen ganz überwiegend keine Gentechnik in Lebensmitteln. Das müssen wir ernst nehmen.“

„Es gibt zu wenige positive Beispiele“

Beide Positionen haben ihre Berechtigung, ist Forscherin Stirn überzeugt. Es gebe positive Beispiele, „Golden Rice“ etwa. Die Pflanze war in den 90er-Jahren so verändert worden, dass sie mehr Beta-Carotin produziert, um den Vitamin-A-Mangel in Entwicklungsländern zu bekämpfen. Weltweit investierten große Geldgeber, das Projekt wurde vielfach ausgezeichnet. „Angebaut wird der Reis bis heute nicht, Proteste von Gentechnikgegnern verhindern das bislang“, so Stirn. Anders lief es mit virenresistenten Bohnen, die in Brasilien entwickelt wurden. „Der Virus hat ganze Ernten bedroht, die resistenten Bohnen wurden zur Ernährungssicherheit gebraucht.“

Doch in Europa gebe es solche Nöte nicht. „Und etwas nur mit dem Argument zu verkaufen, dass es ‚sicher‘ ist, reicht nicht“, sagt Stirn, „es gibt zu wenige Positiv-Beispiele mit einem direkten Nutzen für Verbraucher, um den Menschen die Angst vor gentechnisch veränderten Lebensmitteln zu nehmen.“