Berlin.

Als Alexandra Ellinger in der Nacht ins Krankenhaus kommt, ist sie erschöpft und hungrig. Den ganzen Abend über hatte die 29-Jährige Wehen. Vorboten der Geburt ihres ersten Kindes. Jetzt haben die Schmerzen nachgelassen, der Körper gönnt ihr und dem Kind eine Pause. Die Natur ist klug, doch diese Pause scheint im Klinikalltag nicht vorgesehen. Alexandra Ellinger bekommt eine Tablette, deren Wirkstoff die Wehen künstlich erzeugen sollte. „Als ich die Tablette geschluckt hatte, wusste ich, es war ein Fehler“, sagt sie heute. Ihre Tochter kommt gesund zur Welt, aber die Gedanken kreisen auch nach fast zwei Jahren um diese Stunden.

Die meisten Frauen könnten natürlich gebären

Das Einleiten der Geburt mithilfe wehenfördernder Mittel ist in Deutschland nichts Außergewöhnliches. 2016 erhielten laut einem Bericht des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) mehr als 20 Prozent der Frauen ein Mittel, um die Geburt einzuleiten, 27 Prozent bekamen während der Geburt ein Wehenmittel. Vor einigen Wochen bemängelte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass zu oft bei Geburten eingegriffen werde. Nun hat die Organisation neue Richtlinien für Geburten herausgegeben und fordert ein Zurück zu mehr natürlichen Geburten.

Als natürlich gilt eine Geburt, wenn gar nicht oder kaum eingegriffen wird. Bei der das Kind nicht per Kaiserschnitt und nicht mithilfe einer Saugglocke geholt wird, bei der kein Dammschnitt gemacht, die Fruchtblase nicht künstlich geöffnet wird und bei der außerdem kaum Medikamente gegen Schmerzen oder für die Wehentätigkeit gegeben werden. „Die meisten Frauen in Deutschland könnten ohne diese Hilfe ihr Kind zur Welt bringen“, sagt Denize Krauspenhaar, seit fast 20 Jahren Hebamme in der klinischen und außerklinischen Geburtshilfe und Mitglied im Deutschen Hebammenverband. „Gebären ist keine Krankheit, sondern ein physiologischer Prozess, den wir eigentlich durch uns selbst schaffen.“ Dennoch: „Die Zahl der Geburten, bei denen heute überhaupt nicht interveniert wird, ist erschreckend gering“, sagt Michael Abou-Dakn, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Berliner St. Joseph Krankenhaus und Professor für Geburtsmedizin an der Evangelischen Hochschule Berlin. Die Gründe sind vielfältig: fehlendes Personal, ökonomischer Druck, aber auch eine angstbesetzte Geburtsmedizin, die Komplikationen ausschließen will.

„Eine Geburt wird heute nicht mehr als natürliches Ereignis, sondern als großes Risiko angesehen“, sagt Denize Krauspenhaar. „Eigentlich sollten die meisten Frauen eine Schwangerschaft als ganz normal empfinden, aber das Thema ist angstbesetzt“, erklärt sie. Aufseiten der Schwangeren, aber auch aufseiten der Ärzte. Das beginne schon bei der Einordnung der Frauen als Risikoschwangere. „Sehr viele der werdenden Mütter fallen darunter. Allein ein Alter von über 35 Jahren stellt ein Risiko dar.“ 2016 betraf das laut IQTIG immerhin rund 20 Prozent der Gebärenden.

Stimmen wie die von Michael Abou-Dakn und Denize Krauspenhaar, die ein Umdenken in der Geburtsmedizin fordern, sind in den letzten Jahren lauter und zahlreicher geworden. Es gehe darum, notwendige von nicht notwendigen Interventionen zu unterscheiden, erklärt Abou-Dakn. „Natürlich muss die Frau eine adäquate Schmerztherapie bekommen“, sagt er. „Natürlich müssen wir eingreifen, wenn Mutter oder Kind gefährdet sind.“ Aber allein ein Umstand wie Personalmangel sollte nicht zu einem Eingriff in den natürlichen Geburtsprozess führen.

Den macht Abou-Dakn für die hohe Zahl der Interventionen in Deutschland mitverantwortlich. „Es gibt nicht genug Personal, um Mütter liebevoll zu betreuen“, sagt er. Dabei hätten schon in den 1970er-Jahren Studien gezeigt, dass eine gute Betreuung der Gebärenden einen geringeren Einsatz von Schmerzmitteln zur Folge hat. „Aber Medizin, die mit Nähe zu tun hat, wird schlecht bezahlt. Dann kann man auch nur wenig Personal einstellen.“

Die Frauen, die Krauspenhaar im Geburtshaus betreut, würden sich sehr häufig selbst entbinden, erzählt sie. „Frau und Kind sind die Akteure, ich bin nur die Beobachterin“, sagt sie. Die Hebamme arbeitet in einem Luxusbereich der Geburtshilfe, das ist ihr wohl bewusst: in der außerklinischen Geburtshilfe, in der eine Eins-zu-Eins-Betreuung möglich ist. „Trotzdem muss auch die Geburtshilfe im Krankenhaus das Nichtstun lernen.“

Die allermeisten Kreißsäle in Deutschland würden jedoch von Ärzten geleitet, „die im Studium nur auf die Pathologie der Geburtshilfe, also die möglichen Komplikationen vorbereitet werden“, sagt Krauspenhaar. „Die Ärzte haben häufig Angst, dass ihnen ein Fehler entgeht, und greifen lieber ein.“ Sie fordert eine engere Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Hebammen. „Die müssen schon gemeinsam im Hörsaal sitzen.“ Michael Abou-Dakn stimmt zu. „Wir brauchen in der Geburtsmedizin eine gemeinsame Verortung aller Berufsgruppen. Und wir sollten uns alle Maßnahmen noch einmal unter wissenschaftlichen Aspekten genau ansehen.“

Alexandra Ellinger hat nicht das Gefühl, dass man ihr die Zeit geben wollte, die sie und ihre Tochter gebraucht hätten. Man gab ihr die Tablette, die Wehen setzten wieder ein. Sie kosteten Mutter und Kind viel Kraft, führten aber ins Nichts, „weil wir beide offensichtlich noch nicht bereit waren für die Geburt“. Die Fruchtblase war noch nicht geplatzt, also war es schließlich die Hebamme, die die Blase öffnete, ohne Alexandra Ellinger zuvor zu fragen. „Es war so übergriffig, aber ich war einfach zu erschöpft, um all das zu hinterfragen“, sagt sie heute.

Besonders die fehlende Kommunikation sei häufig ein Problem, von dem Frauen nach der Geburt berichten, bestätigt Denize Krauspenhaar. „Aber eine gebärende Frau ist kein entmündigter Mensch, auch wenn sie sich in einer Ausnahmesituation befindet“, sagt die Hebamme. Michael Abou-Dakn rät Eltern, sich vor der Geburt in der Klinik zu erkundigen, wie sie in die Abläufe miteinbezogen werden, und während der Geburt nachzufragen, wenn sie Dinge nicht verstehen. „Notfalls mehrfach und sehr deutlich.“ Außerdem sollten sie nach der Geburt mit dem Arzt oder der Hebamme sprechen. „Und auch hier: Wenn es wegen fehlender Ressourcen untergeht, fordern Sie es ein.“

Sie wirft sich vor, nicht auf ihren Instinkt gehört zu haben

Es war halb zwölf in der Nacht, als die Ärzte entschieden, die Tochter von Alexandra Ellinger per Kaiserschnitt zu holen. Seit 24 Stunden hatte sie zu diesem Zeitpunkt Wehen. Sie hatte nicht geschlafen, nicht gegessen. „Ich habe eingewilligt, weil ich nicht mehr konnte. Ich dachte, ich überlebe das sonst nicht.“ Kurz vor dem Eingriff wurden die Herztöne des Kindes schlechter, die Ärzte wurden hektisch. Noch bevor die Narkose wirken konnte, schnitten sie Alexandra Ellinger den Bauch auf. Sie schrie. Erst als sie ihre Tochter schreien hörte, fielen ihr die Augen zu.

Heute macht sie sich einen Vorwurf: Sich und ihrer Tochter nicht die Zeit gegeben zu haben, die sie beide brauchten. Die Tablette war ein Fehler, „aber ich habe mich darauf verlassen, dass es die Ärzte besser wissen als ich“.