Sonja Fröhlich

Ein Patient, der schon morgens stark nach Tabak riecht, aber sagt, er rauche nur „ganz selten“. Oder einer, der 120 Kilogramm auf die Waage bringt, aber angibt, „ganz wenig“ Fett und Zucker zu essen. Bei solchen Widersprüchlichkeiten weiß der Arzt: Da stimmt was nicht.

Ich habe meinen Hausarzt auch schon angelogen, nicht nur ein Mal. Zuletzt habe ich ihm erzählt, dass ich jeden zweiten Tag jogge. Verschwiegen habe ich, dass ich das nur bei schönem Wetter tue. Und dann auch nur, wenn ich nichts anderes vorhabe. Beim Belastungs-EKG hat er sich gewundert, dass ich so schnell schlappgemacht habe.

Für Ärzte ist es alltäglich, dass sie angelogen werden. Jeder dritte Deutsche, so eine aktuelle Umfrage der Markt- und Meinungsforschungsinstitute Statista und YouGov, ist im Behandlungszimmer unehrlich. Demnach flunkern Patienten vor allem in Bezug auf Ernährung und Gewicht, häufig auch über ausreichend Bewegung, die Einnahme von Medikamenten, Alkohol- und Zigarettenkonsum. In der Regel macht sich ein Patient also gesünder, als er ist – es sei denn, er braucht einen Krankenschein.

Die meisten lügen aus Scham – die Wahrheit ist unangenehm

Klar, man sollte seinen Arzt nicht anlügen – man ist ja selbst der Leidtragende. Warum also tun es dennoch so viele? „Den Patienten ist die Wahrheit unangenehm, aus Scham sagen sie lieber die Unwahrheit“, meint Olaf Reddemann, Facharzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. „Wenn jemand etwa jede Nacht über den Kühlschrank herfällt, kann das so beschämend sein, dass derjenige nicht darüber sprechen will.“

Tatsächlich gaben die meisten der von YouGov und Statista Befragten an, aus Scham zu lügen: „Die Wahrheit war mir unangenehm“, sagten 36 Prozent. Weitere Top-Gründe: „Ich wollte gesünder wirken“ (25 Prozent), „Ich wollte krankgeschrieben werden“ (11 Prozent).

Dem Schamgefühl können viele Ursachen zugrunde liegen, sagt Reddemann, der auch Sprecher der Arbeitsgruppe Psychosomatik bei der deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin ist. Unter anderem, sagt er, spielen gesellschaftliche Vorurteile eine Rolle: „Viele Menschen wissen oder glauben nicht, wie belastet das Leben von Menschen mit starkem Übergewicht oft ist. Sie denken: Die Betroffenen sind selbst schuld – und müssen sich nur mal richtig anstrengen.“ Damit konfrontiert, geraten Betroffene in die Schamspirale.

Mein Hausarzt steht, wie andere Hausärzte für andere Patienten auch, für einen moralischen Zeigefinger. Für all das, was sozial erstrebenswert ist: Wir sollen schlank, sportlich, ausgeschlafen, frei von Drogen und Kalorienbomben sein – und von allem, was sonst noch ungesund ist. Als ich ihm bei meinem ersten Besuch sagte, dass ich rauche, sah er mich an als sei ich ein Killervirus fürs Gesundheitssystem. Er sagte: „Sie sollten schleunigst aufhören, sonst besteht die Gefahr, dass Sie ein Lungenkarzinom bekommen.“ Dann schrieb er mir einen Youtube-Link auf: So werden Sie sofort Nichtraucher. Ich habe diesen Film nie geguckt.

Ein erfahrener Arzt kann geflunkerte Angaben gut einschätzen, sagen Mediziner. Und wenn die Psychologie nicht reicht, gibt es einen bewährten Lügendetektor: das Blutbild. Kaum Fleisch und Schokolade essen, aber Blutfettwerte wie ein Speckberg? Dabei können Schwindeleien schwere Konsequenzen haben. Infolge von Medikamenteneinnahmen zum Beispiel. Wer akute gefährliche Erkrankungen nicht mit geeigneten Medikamenten behandelt, bringt sich möglicherweise in Gefahr. Wer sein Bluthochdruckmittel nicht täglich nimmt, steigert das Risiko eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts. Wer mehr Schmerzmittel einnimmt als verordnet, kann auf Dauer schwere Organschäden herbeiführen.

„Mit diesem Phänomen hab ich tagtäglich zu tun“, sagt Facharzt Reddemann. „Patienten treffen ihre eigenen Entscheidungen. Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht darin, darüber mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.“ Die Gründe, warum Patienten sich nicht an Anweisungen halten, können vielfältig sein: Mal haben sie Angst vor den Nebenwirkungen. Oder sie haben schlichtweg vergessen, die Tabletten zu nehmen. Oder sie dachten, sie schaffen das auch ohne. Reddemann nimmt das seinen Patienten nicht übel. Er sagt, jeder Arzt habe sich selbst zu prüfen: Habe ich die Zweifel übersehen? Was ist in der Kommunikation schiefgelaufen? Ein Arzt sollte auch unterscheiden können zwischen denjenigen, die aus Schamgefühl schwindeln, und denen, die überzeugt davon sind, die Wahrheit zu sagen. Einer der angibt, regelmäßig zu schwimmen, sich aber schon nach drei Bahnen in die Pommesbude setzt, hat subjektiv gesehen recht – aber alles andere ausgeixt. Ein Arzt mit Instinkt und Sensibilität könne dann oft Brücken bauen. „Dafür muss man sich Zeit nehmen“, sagt Reddemann.

Notfall- und Intensivmediziner haben diese Zeit selten. „Für uns sind im Notfall schnelle, genaue Informationen entscheidend“, sagt Christian Hermanns vom Berufsverband Deutscher Anästhesisten. Leidet der Patient unter organischen Vorerkrankungen oder Allergien? Hat er zum Beispiel Alkohol oder Drogen konsumiert oder Medikamente eingenommen? Hat er mit giftigen Stoffen hantiert?“ „Alles was wir wissen, ist für die Behandlung ausschlaggebend und trägt zur Sicherheit des Patienten bei“, sagt Hermanns. Das Problem: Gegenüber dem fremden Arzt in roter Einsatzkleidung fehlt manchmal das Vertrauen. Auch vor Kollegen oder dem Partner wollen manche Notfall-Patienten die Karten nicht auf den Tisch legen. „Solche Situationen müssen wir erspüren, da sind Einfühlungsvermögen und Detektivarbeit gefragt.“

Auch Kinder- und Jugendarzt Hermann Josef Kahl erlebt es, dass Eltern, die mit ihrem Kind zu ihm kommen, wichtige Informationen aussparen oder lügen. Manchmal geht es um ein Attest, um mit dem Nachwuchs außerhalb der Ferien wegfahren zu können. Häufiger aber wollen Eltern besser dastehen, wenn es um die immer gleichen Themen geht – Süßigkeiten, Bewegung, Medienkonsum. „Dicke Kinder essen natürlich kaum etwas und trinken nur Wasser. Kinder mit Konzentrations- oder Schlafstörungen verbringen natürlich kaum Zeit mit Smartphone und Spielkonsole“, zitiert der Kinderarzt entsprechende Angaben. „Da kommt man natürlich nur schwer gegen an, aber rächen tut sich das schnell.“

Als mich mein Hausarzt neulich gefragt hat, ob ich denn noch rauche, stammelte ich: „Ja, aber nur ganz selten.“ Das war gelogen. Ich glaube, er weiß das.