Da macht der Genussmensch dicke Backen – oder genau das Gegenteil davon: Die vertraute Bratwurstbude auf dem Spritzenplatz in Ottensen ist verschwunden. Quasi über Nacht hat Herr Müller die Segel gestrichen. Vier Jahrzehnte war er vis-à-vis der Haspa mit seinem orangefarbenen Stand präsent. Bei Wind und Wetter, im Sommer wie Winter. An anderen Tagen bot er auf der anderen Seite des Bahnhofs Altona, an der Großen Bergstraße, eine der besten Thüringer der Stadt und richtig gute Pommes mit wirklich leckerem Ketchup an. Früher war die Tochter mit an Bord, am Schluss eine jüngere Angestellte.

Zuletzt wähnten Stammkunden Herrn Müller im Urlaub. Doch als dieser immer länger zu währen schien, machte sich Verunsicherung breit. Denn der Mann mit der windschnittigen Frisur, eine kernige Type norddeutscher Machart, beeindruckte nicht nur mit seinem Angebot, sondern mit seiner Art. Frohsinn und Energie auf zwei Beinen. Und wer mal nicht so gut drauf wahr, erhielt verbal Rückenwind. Außerdem hatte Herr Müller die größten Ohren weit und breit. Keiner wusste besser, was im Stadtteil los ist.

Der Autor ist Chefreporter beim Abendblatt
Der Autor ist Chefreporter beim Abendblatt © Michael Zapf

Und nun ist er weg, ohne Abschied, einfach so. Hoffentlich ist er nicht krank. „Er hat sich spontan beim Amt abgemeldet, war von einem auf den anderen Tag nicht mehr da“, verrät Wolfgang vom Wurststand gegenüber. Der Mann aus Garstedt hat den vielleicht besten Räucherschinken des Nordens, auf jeden Fall den trockensten Humor weltweit. Wolfgang ist „erst“ seit 37 Jahren mit seiner Bude in Ottensen präsent. Freundlich wie immer gibt er Auskunft, obwohl gewiss schon ganz viele nach Herrn Müller gefragt haben.

PS: Neuerdings steht dort wieder ein Wurstanhänger. Mal sehen, ob die jungen Leute bis 2058 durchhalten. Vier Jahrzehnte, so wie Herr Müller.