Lissabon.

Es war schon 1.30 Uhr in Portugal, als Michael Schulte, eingehüllt in Deutschlandfahne und einfach nur glücklich, vor den Mikrofonen auftauchte. Nach einer pompösen Drei-Stunden-Show, nach einem nervenaufreibenden Voting, immer noch voller Energie. „Besser könnte es mir eigentlich nicht gehen“, sagte der Deutsche über seinen vierten Platz beim ESC-Finale in Lissabon, den er zuvor mit einem emotionalen und nahezu perfekten Auftritt geholt hatte. „Da oben zu stehen, war wirklich einer der verrücktesten und schönsten Momente in meinem Leben.“

Schultes „You Let Me Walk Alone“, in dem er von seinem verstorbenen Vater singt, schnitt am Sonnabendabend nach der Abstimmung von Zuschauern und Experten-Jurys aus ganz Europa und Australien nur schlechter ab als die Siegerin Netta aus Israel, Eleni Foureira aus Zypern und Cesár Sampson aus Österreich. Als das Ergebnis gegen kurz nach 23 Uhr Ortszeit feststand, als die Siegerin mit standesgemäßen 50 Kilogramm Konfetti vollgeregnet wurde, hatte Michael Schulte seine Freude laut rausgeschrien.

Ein emotionales Ende einer großen Party, die allerdings einmal kurz gestört wurde, als ein Mann beim Auftritt der Britin SuRie auf die Bühne stürmte und der Sängerin das Mikro entriss. Der Störer wurde festgenommen, SuRie setzte ihre Show fort und verzichtete trotz allem auf einen zweiten Auftritt. „So etwas wünsche ich keinem Künstler“, sagte Michael Schulte. „Ich hoffe, das UK gibt ihr nächstes Jahr eine zweite Chance.“

Deutlich glatter lief der Auftritt des Deutschen: kaum Blingbling auf der Bühne, alle Augen auf den Künstler, eine reduzierte, aber fesselnde Kulisse – und die Töne saßen. Die etwas schnellere und variantenreicher gesungene Bühnenfassung seines Songs brachte an entscheidenden Stellen mehr Power in die Ballade, die im Februar beim deutschen Vorentscheid die Höchstpunktzahl geholt hatte. Schon bei den Proben in Lissabon hatte er Zuhörer damit zum Weinen gebracht, am Sonnabend blieb das nicht anders.

„Ich bin jetzt einfach nur erleichtert und stolz“, sagte Michael Schulte, der nicht nur sich selbst, sondern auch den deutschen ESC-Fans ein langersehntes Geschenk machte. Zwei letzte Plätze und ein vorletzter Platz in den vergangenen drei Jahren hatten viel Spott und Häme über Künstler und das ESC-Konzept der ARD gebracht. Kaum zufällig fuhr mit dem 28-Jährigen eine Art Gegenentwurf von dem nach Portugal, was Deutschland zuletzt auf die ESC-Bühnen geschickt hatte.

Dieses Mal gab es kein schrilles Manga-Girl, kein austauschbares Pop-Mädchen im Glitzerkleid – sondern einfach nur: „Micha“. „Authentisch und ehrlich“, so hatte sich der Lockenkopf aus Buxtehude zuvor beschrieben. ARD-Moderatorin Barbara Schöneberger fasste zusammen: „Die Stimme von Ed Sheeran, die Frisur von Pumuckl.“ Wie auch immer: Eine Mischung, die für eine große Überraschung sorgte.

Überraschend war der Ausgang des Abends letztendlich auch für die Gewinnerin aus Israel. Noch kurz vor ihrer Sieger-Zugabe schaute Netta immer wieder ungläubig durch die mit 11.500 Zuschauern gefüllte Altice Arena.

Denn nach einem wochenlangen Hype um die 25-Jährige war die Rolle der Favoritin kurz vor dem Finale neu vergeben worden. „Das ist einfach nur komplett verrückt“, jubelte die Sängerin mit Tränen in den Augen.

Netta rief Frauen auf, sich Gehör zu verschaffen und an sich selbst zu glauben. „Mir wurde so oft gesagt, ich sei nicht hübsch, nicht pfiffig und nicht dünn genug, um das zu tun, was ich tun möchte.“ Sie sei daher froh, dass sich das Publikum für Vielfalt entschieden habe. „Ich bin stolz und fühle mich geehrt, die Welt ein wenig verändert zu haben.“ Sie hoffe, dass das Lied auch anderen Stärke verleihe. Es ist bereits der vierte Sieg Israels bei dem Musikwettbewerb. Zuletzt hatte das Land 1998 mit Dana International gewonnen.

Netta überzeugte mit einem Lied zur #MeToo-Debatte

Eleni Foureira hatte sich mit ihrem Auftritt im zweiten Halbfinale mit ihrem Dancepop-Song „Fuego“ an die Spitze der Prognosen gegroovt. Die einen feierten sie wahlweise als zweite Beyoncé oder neue Shakira, die anderen verstanden die Welt nicht mehr.

Zuvor hatte Netta wochenlang ganz oben auf den Listen der Experten und Buchmacher gestanden. Weil ihr Song „Toy“ so gut zur aktuellen #MeToo-Debatte passt. Und wegen ihres abwechslungsreichen, schrillen Stils. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gratulierte noch in der Nacht und bezeichnete die Künstlerin als „Israels beste Botschafterin“.

So schnell wird Michael Schulte all das allerdings kaum in Ruhe genießen können. In den nächsten Tagen geht es für ihn noch ein wenig weiter mit dem Medien-Marathon.

Und dann wartet auch schon wieder die nächste große Aufgabe und der nächste große Erfolgsdruck: Bis August muss das Kinderzimmer für seinen Sohn fertig werden. „Besser hätte es eigentlich gar nicht laufen können“, sagte der Bald-Papa strahlend über die ersten Monate des Jahres am Sonnabendabend.