Münster.

Es ist Mittag und die Stadt voll, aber die meisten Tische und Stühle, die sie rausgestellt haben rund um den Prinzipalmarkt in Münster, bleiben leer. Offenbar fällt es den Menschen schwer, ihr Mittagessen keine 100 Meter von der Stelle zu genießen, wo am Sonnabend der 48-jährige Jens R. mit seinem Camping-Bus in eine Menschenmenge raste und sich anschließend selbst erschoss.

Am Restaurant „Kiepenkerl“ brennen Hunderte Grablichter, Passanten, die vorbeikommen, bleiben kurz stehen. „Schrecklich ist das alles“, sagt eine grauhaarige Dame und fragt ihren Mann: „Wieso gibt es hier eigentlich keine Poller?“ Die gibt es. Keine großen schweren Sperren, aber dicke Parkplatz-Poller. Fünf von ihnen allerdings fehlen und öffnen eine Lücke auf den Platz, die R. nutzte, um mit seinem Auto auf die Terrasse zu rasen.

Vater des Täters: „Mein Sohn war nicht gewalttätig“

Am Montag gibt es neue Informationen über den Zustand der Verletzten. Zwei Tage nach der Amokfahrt schweben noch drei von insgesamt 25 in Lebensgefahr. Die ebenfalls verletzte Bundesliga-Volleyballerin Chiara Hoenhorst (21) vom USC Münster wurde in ein künstliches Koma versetzt, ist mittlerweile aber nicht mehr in Lebensgefahr.

Die Polizei hat ebenfalls mittlerweile mehr über Jens R. herausgefunden. So habe er für die Pistole, mit der er sich erschoss, keinen Waffenschein besessen. „Es war keine ordnungsgemäß erworbene Waffe“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul. Außerdem wurde mehr über seine tatsächliche Suizidabsicht bekannt. „Nach Auswertung der Dokumente, Spuren und Aussagen sind die Ermittlungsbehörden sicher, dass der 48-Jährige in Suizidabsicht handelte“, erklärte Oberstaatsanwalt Martin Botzenhardt am Abend zu den bisherigen Ergebnissen. Bei der Durchsuchung der Wohnung des ledigen und kinderlosen Mannes sei unter anderem ein über einen Balken gelegtes Hanfseil mit Henkersknoten gefunden worden. Dieses Seil sei ein „eindeutiger Hinweis“.

Zudem gibt es offenbar reichlich Material über Jens R. Er habe lange E-Mails geschrieben. Briefe verfasst, Lebensbeichten abgelegt. Diese zeichnen das Bild eines Mannes, der seit Jahren mit dem Leben hadert. Einem Leben, das es in den 90er-Jahren noch gut mit ihm meint. Als der im Sauerland groß gewordene R. in Münster Design studiert, Preise bekommt für seine Entwürfe und wohl auch viel Geld verdient.

Der Vater des Täters geht davon aus, dass eine psychische Krankheit seinen Sohn zur Amokfahrt getrieben hat. „Es war eine Krankheit, die ihn in zwei Welten hat leben lassen“, sagte der 79-jährige Möbeldesigner und fügte hinzu: „Er bildete sich etwas ein, was das Gegenteil der Wirklichkeit war.“ Deshalb glaube er auch nicht, dass die Polizei das Motiv der Tat jemals klären wird. „Das Motiv war die Krankheit in seinem Kopf.“ Sein Sohn habe schon 2015 von Selbstmord gesprochen.

Der Vater, der in dem kleinen Ort Madfeld im Hochsauerlandkreis (Nordrhein-Westfalen) lebt, sagte, sein Sohn habe an „Verfolgungswahn“ gelitten, sei aber nicht gewalttätig gewesen. Das letzte Mal hätten Vater und Sohn vor etwa einem Vierteljahr Kontakt gehabt. „Er muss in seinem Kopf Höllenqualen gehabt haben.“

„Verpfuschte“ Operation bringt Täter auf schiefe Bahn

Das habe vor allem mit einer Verletzung zu tun: Jens R. stürzte vor einigen Jahren schwer im Treppenhaus seines Mehrfamilienhauses. Die Operation an der Wirbelsäule habe man „verpfuscht“, schimpft R. in Briefen. Nun quälen ihn nicht nur Rückenschmerzen, er verliert den Bezug zur realen Welt, spinnt Verschwörungstheorien, schikaniert die Nachbarschaft. Der Vater: „Er konnte nicht mehr arbeiten. Da hat er sehr drunter gelitten.“

R. wird kriminell, fällt auf. Sachbeschädigung, Unfallflucht, Bedrohung. Alles nicht schlimm genug für eine Gefängnisstrafe. Zumal die Prognosen der Behörden gut sind. Es wurde, schreibt ein Mitarbeiter des sozialpsychiatrischen Dienstes laut „Spiegel“, „zu diesem Zeitpunkt keine Eigen- und Fremdgefährdung festgestellt“.