Berlin.

Ein Hausmittel: Hohes Glas oder Flasche; darin Frucht- oder Weinessig, gemischt mit Wasser im Verhältnis 1:1; ein Tropfen Spülmittel, das die Oberflächenspannung des Wassers verringert – die Mixtur des Todes für Drosophila melanogaster, im Internet diskutiert und optimiert. Gelockt durch den Geruch des Essigs, der den betörenden Duft vergorenen Obstes imitiert, sinkt die Millimeter kleine Fruchtfliege mit den leuchtend roten Augen beim Versuch, von dem Gemisch zu naschen, auf den Grund des Glases. Dem Giftmischer beschert der Anblick grimmige Befriedigung. Fruchtfliegen sind in etwa so beliebt wie das verschimmelte Obst, das sie so schätzen.

Doch Wertschätzung wäre angebracht. Denn was wären wir ohne Drosophila? Wo wäre die Forschung ohne diesen bis aufs letzte Gen sequenzierten und erforschten Organismus? Erst jüngst hat Drosophila Erkenntnisse darüber gebracht, wie das Gehirn Farben verarbeitet. Eine Frage, die seit jeher Wissenschaft und Philosophie beschäftigt. Auch könnte sie uns einen neuen Weg zur Behandlung von Depressionen ebnen – denn Drosophila reagiert auf anhaltenden Stress ähnlich wie der Mensch; sie hat uns einen möglichen Schlüssel für ein längeres Leben beschert – und den Deutschen im Jahr 1995 einen Nobelpreis für Medizin.

Leicht zu züchten, gut zu halten, meistens gesund

Die Biologin Christiane Nüsslein-Volhard gewann die höchste wissenschaftliche Auszeichnung für die Erkenntnisse zur embryonalen Entwicklung von Drosophila melanogaster. Sie entdeckte jene Gene, die im Ei der Fliege wirken und für die Entwicklung der Körpergestalt der Larve notwendig sind. „Ich wollte herausfinden, welche Gene dafür sorgen, dass innerhalb einer sehr kurzen Zeit ein Wesen entsteht, das viele verschiedene Strukturen und Organe an der richtigen Stelle hat“, sagt die 75-Jährige, die bis heute am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen arbeitet. Eines der Gene mit Namen Hedgehog (englisch für Igel), das die Forscherin gemeinsam mit ihrem Kollegen Eric F. Wieschaus dabei entdeckte, wird heute mit der Entstehung von Krebs beim Menschen in Verbindung gebracht und diente entsprechend der Entwicklung neuer Therapieansätze gegen Tumorerkrankungen.

Nur, wie lassen sich an Fruchtfliegen gewonnene Erkenntnisse auf den Menschen übertragen? Was hat dieser kleine durchsichtige Larvenkörper mit dem komplexen Aufbau des menschlichen Körpers zu tun? Wesentlich mehr, als es der erste Blick vermuten lässt. Denn es gibt einen gemeinsamen Vorfahren. Den Urahn aller vielzelligen Tiere, von Mensch und Fliege, von Wirbeltier und Wirbellosen. Es könnte eine Art Wurm gewesen sein, glaubt Nüsslein-Volhard, mit einem Vorder- und einem Hinterende. Mit Darm und einer Art Gehirn oder zumindest Nervenknoten. „So genau weiß man das nicht“, sagt die Biologin. „Aber dieser gemeinsame Vorfahre muss offenbar schon einen Satz Gene besessen haben, der diesen primitiven Organismus gesteuert hat, und der bei der Evolution der Tiere in abgewandelter Form erhalten blieb.“ Rund 100 Gene sind es, die diesen Baukasten bilden.

Damit ist Drosophila melanogaster ein sogenannter Modellorganismus mit unschätzbarem Wert für die Wissenschaft. Ihre Gene können manipuliert oder etwa durch die anderer Lebewesen ersetzt werden. So konnten Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums in Drosophila ein Gen mit dem Namen Thada identifizieren, das die Balance zwischen Körperwärme und Fettverbrennung steuert. Fehlt es, fressen die Tiere viel, werden dick und produzieren weniger Körperwärme. Die Forscher fanden heraus, dass das Thada-Gen des Menschen das der Fliege in Drosophila ersetzen kann – was dafür spreche, so die Forscher, dass das Gen in beiden Arten vergleichbare Funktionen ausübt.

„Mithilfe von Drosophila hat man ganz grundlegende biologische Mechanismen aufgedeckt, von denen man zuvor nicht einmal wusste, dass sie existieren“, sagt Wolfgang Hennig. Der emeritierte Professor hat viele Jahre am Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen gearbeitet und an der Universität von Schanghai an Drosophila geforscht. Hennig erklärt es am Beispiel des Auges: Lange hätten Forscher gedacht, die Augen seien im Laufe der Evolution viele Male unabhängig voneinander entstanden, je nach Tier und Funktion. „Aber der Schweizer Walter Gehring konnte herausfinden, dass grundlegende Steuergene für die Entwicklung des Auges bei niedrig entwickelten Tieren genauso vorhanden sind wie beim Menschen“, erklärt Hennig. Konkret kann das dann so aussehen: Ersetzt man das entsprechende Gen von Drosophila durch das einer Maus entsteht in der Fruchtfliege ein funktionsfähiges Auge. „Dass also generelle Regulationswege für bestimmte Organe und Prozesse evolutionär erhalten geblieben sind und nur modifiziert werden – das ist sicher eine der wichtigsten Ergebnisse, die durch Drosophila gewonnen wurden.“

Wolfgang Hennig ist Biologe, so wie es auch sein Vater war. Zwei seiner Kinder sind es auch, die beiden anderen sind Geografen mit einem Hang zur Biologie. Die Beziehung der Familie zu Drosophila ist eng, zeitweise wohnte sie bei den Hennigs mit im Haus. Nicht als Küchenbewohner, sondern in einem Inkubator im Keller. „Manchmal musste ich die Fliegen zum Beispiel zu einer bestimmten Zeit paaren. So habe ich mir den nächtlichen Weg ins Institut gespart“, sagt Hennig. Hier zeigt sich ein weiterer Vorteil von Drosophila: Sie ist ein sehr dankbares Forschungsobjekt, leicht zu züchten, leicht zu halten. „Die Fliegen sind angenehm, weil sie keine Krankheiten übertragen und auch selten welche haben“, sagt Nüsslein-Volhard. Man müsse keine Hygienevorschriften beachten – und es gehe ihnen im Grunde auch ganz gut. „Sie werden gefüttert und bekommen unendlich viele Kinder, wenn man nicht aufpasst.“ Ein Weibchen legt rund 400 Eier, bereits nach 22 Stunden schlüpfen die Larven. Diese kurze Generationenfolge macht Versuche wie diese möglich: US-Forscher haben 225 Tage lang 400.000 genetisch manipulierte Fruchtfliegen beim Krabbeln, Putzen und Paaren gefilmt. Sie wollten herausfinden, welche Nervenzellen bei welchen Verhaltensweisen aktiv sind. Denn auch hier seien die neuronalen Mechanismen vermutlich die gleichen, die auch im menschlichen Hirn operierten, glauben die Forscher.

Übrigens: Wenn sich Drosophila in das betörend riechende Glas Rotwein stürzt, muss nicht gleich der ganze Inhalt in den Abfluss. Denn nur die weibliche Fliege macht das Getränk ungenießbar. Sie sondert einen Botenstoff ab, um Männchen zu locken. Davon reicht allerdings ein Nanogramm, um den Wein untrinkbar zu machen, sagen schwedische Forscher der Universität Uppsala. Um das zu merken, muss man allerdings probieren.