Münster.

Der Mann, der die malerische Stadt Münster mit seiner mutmaßlichen Amokfahrt ins Unglück gestürzt hat, war kein angenehmer Zeitgenosse. Das legen Gespräche mit seinen Nachbarn nahe, die den 48-Jährigen als „komischen Typen“ beschreiben, als „psychisch auffällig“ und „leicht erregbar“. Zwei Tage nach der Gewaltattacke vom Sonnabendnachmittag gibt der Todesfahrer den Ermittlern Rätsel auf. Zwar haben sie schnell seine Identität festgestellt – doch sein Motiv liegt im Unklaren. Die Polizei bestätigt, dass er Jens R. hieß, aus dem kleinen Ort Olsberg im Sauerland stammte und seit vielen Jahren in Münster lebte. Er hatte noch weitere Wohnsitze, insgesamt durchsuchten Beamte vier auf seinen Namen angemeldete Wohnungen: zwei in Münster, zwei in den sächsischen Städten Pirna und Heidenau bei Dresden.

Zudem besaß er fünf Autos. Wie konnte der Industrie-Designer das alles bezahlen? Die Leitende Oberstaatsanwältin Elke Adomeit nennt ihn „polizeibekannt“. Informationen, wonach er Verwandte mit einer Axt bedroht hat, bestätigt sie nicht. Gerüchte, dass er in Sachsen und NRW Kontakte in die rechte Szene gehabt habe, kann die Polizei ebenfalls nicht bestätigen. Nach derzeitigem Ermittlungsstand deute nichts darauf hin, dass die Tat politisch motiviert gewesen sei. „Gegen ihn liefen Verfahren unter anderem wegen Sachbeschädigung, Betrug, Unfallflucht und Bedrohung“, sagt Adomeit. Angeklagt wurde er nie. „Alle Verfahren wurden eingestellt.“

Polizei findet mehrere Waffen in den Wohnungen des Täters

Spezialeinsatzkräfte haben bei Durchsuchungen seiner Wohnungen eine unbrauchbar gemachte Maschinenpistole vom Typ AK47 – eine Dekowaffe – entdeckt, außerdem mehrere Gasflaschen sowie Kanister mit Bioethanol und Benzin. In dem Kleintransporter, mit dem Jens R. in die Menschenmenge in Münsters Altstadt gerast war, fanden Polizisten die Waffe, mit der sich der Fahrer selbst erschossen hatte, eine Schreckschusswaffe und rund ein Dutzend sogenannte Polenböller.

Während die Ermittlungen andauern, ringen die Bürger von Münster um Fassung. Tief haben sich die Geschehnisse vom Sonnabend ins Bewusstsein der katholisch geprägten Universitätsstadt gegraben. Um 15.27 Uhr hatte Jens R. das Fahrzeug auf den kleinen Platz vor dem auf münsterländische Hausmannskost spezialisierten Traditionslokal „Großer Kiepenkerl“ gesteuert. Bei sommerlichen 25 Grad saßen Dutzende Menschen vor dem Restaurant. „Total voll“ sei es dort gewesen, erinnert sich Melanie (23), die in Münster studiert. „Da gab es keinen freien Platz.“ Zwei Menschen sterben, als Jens R. aus im Wortsinn heiterem Himmel seinen silbergrauen VW T5 Multivan auf die Terrasse steuert: eine 51-jährige Frau aus Niedersachsen und ein 65-jähriger Mann aus der Nähe von Münster. Mehr als 20 Menschen werden teils schwer verletzt. „Zwischendurch habe ich plötzlich noch einen Knall gehört“, erzählt Josef von der Haar, der in einem Restaurant nebenan arbeitet. Es ist, wie sich später herausstellt, der Schuss, mit dem sich der Amokfahrer noch im Wagen selbst tötet.

Um den „Großen Kiepenkerl“ herum flüchten die Menschen. „Haut ab“, rufen sie den Entgegenkommenden zu, „lauft weg“. Schnell ist ein Streifenwagen der Polizei am Unglücksort. Glück im Unglück: Wegen einer angemeldeten Kurdendemo in der Altstadt ist ein größeres Aufgebot von Beamten in der Fußgängerzone. Nur wenig später treffen auch die ersten Notärzte und Sanitäter ein. Was sie sehen, erinnert sie an die terroristischen Anschläge von Berlin oder Nizza: Verletzte liegen stöhnend zwischen umgestürzten und zersplitterten Tischen und Stühlen auf dem Boden, andere irren durch die Trümmer. Die Polizei löst Großalarm aus. Bis zum Abend sind 1100 Beamte in der abgeriegelten Innenstadt. Auch weil es Zeugen gibt, die gesehen haben wollen, wie zwei weitere Personen aus dem Campingbus geflüchtet sind. Erst am Sonntag geben die Ermittler Entwarnung. Es wird immer deutlicher, dass es keine weiteren Verdächtigen gibt, sondern es sich eher um einen einzelnen Amokfahrer handelte.

Reinigungskräftewischen das Blut auf

Seit der Attacke gibt es kein anderes Gesprächsthema in der Stadt. Vor der Uniklinik steht am Sonntag eine lange Schlange wartender Menschen – sie alle folgen einem Aufruf zum Blutspenden. „Beispiellos“, sagt eine Kliniksprecherin. Auch die Polizei lobt: „Alle haben sich vorbildlich verhalten.“ Der Schauspieler Axel Prahl (58), der den Kommissar Thiel im Münster-„Tatort“ spielt, bittet auf Facebook: „Münster, bleib wie Du warst und wie wir Dich lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz.“ Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sprechen bei einem Besuch in Münster am Sonntag gemeinsam den Opfern und Angehörigen ihr Mitgefühl aus. „Wir hoffen inständig und beten dafür, dass die Verletzten wieder gesund werden“, sagt Seehofer. Er dankt Polizei und Sicherheitskräften – und auch den Medien, die sich verantwortungsbewusst verhalten und „sachgerecht“ berichtet hätten. Das Weiße Haus teilt derweil mit, dass US-Präsident Donald Trump für die Opfer bete.

Innerhalb weniger Minuten hat Jens R. mit seiner Tat also weltweite Aufmerksamkeit erlangt. Eben darum, so sagen Psychologen, gehe es manchen Menschen, die einen „erweiterten Suizid“ begehen. Sie wollen andere mit in den Tod reißen, um ihr Leben nicht dort zu beenden, wo sie es geführt haben: am Rand der Gesellschaft.

Mittlerweile sieht es vor dem „Großen Kiepenkerl“ wieder aus wie immer: Der Campingwagen mit der eingedrückten Frontpartie wurde abgeschleppt, Reinigungskräfte haben das Blut aufgewischt, die Splitter weggefegt und die Tische der Nachbarcafés abgeräumt, auf denen noch Kaffee, Cola und Eisbecher standen – zurückgelassen beim fluchtartigen Verlassen der Restaurants. „Man darf sich“, findet Studentin Melanie, „nicht verrückt machen lassen. Passieren kann einem überall etwas.“

Nach Informationen von WDR, NDR und „Süddeutscher Zeitung“ soll in der Wohnung des Täters im sächsischen Pirna ein längeres Schreiben entdeckt worden sein. Darin beschreibe er Erfahrungen aus seinem Leben, die er als demütigend empfunden habe. Erst vor wenigen Tagen hatte der spätere Amokfahrer in einer E-Mail an Freunde und Bekannte einen Suizid angedeutet.