Regisseur Christian Petzolds erstaunlich dauerhaftnachwirkendes Drama „Transit“ ist die Verfilmung von Anna Seghers’ Roman aus dem Jahr 1947, spielt aber im Marseille der Gegenwart

Beginnen wir einmal mit dem Schluss. Zum Abspann dieses erstaunlichen und lange nachwirkenden Films läuft das Lied „Road To Nowhere“ von den Talking Heads, und das ist natürlich eine Punktlandung. Denn auf einer Straße ins Nirgendwo befinden sich alle Figuren, die wir in Christian Petzolds „Transit“ gerade gesehen haben, und sie sind es mit der gleichen Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung, von der dieses Lied erzählt.

Petzold, durch dessen filmisches Werk von „Die innere Sicherheit“ (2000) über „Wolfsburg“ (2003) bis hin zu „Barbara“ (2012) sich das Motiv existenzieller Verlorenheit zieht, hat sich diesmal Anna Seghers’ berühmten Flüchtlingsroman „Transit“ vorgenommen, der erstmals 1947 veröffentlicht wurde und im nationalsozialistisch besetzten Frankreich spielt. Sein größtes Wagnis ist zugleich sein größter Kunstgriff: Er verzichtet fast vollständig auf historische Kulissenschiebereien und Kostümzauber. Es ist das gegenwärtige Marseille, das wir zusammen mit der Hauptfigur Georg (Franz Rogowski) durchstreifen, es sind die heutzutage produzierten Autos, die wir auf seinen Straßen sehen – und es bedarf nur eines in Sütterlin beschrifteten Briefbündels, um die Zeitlosigkeit dieser Geschichte zu begreifen, um also einzusehen, dass ein Flüchtlingsschicksal nicht einer Ausnahmesituation der Geschichte entspringt, sondern ihre Regel ist.

Ein solches Briefbündel erhält Georg zu Beginn von einem Freund, verbunden mit dem Auftrag, es zu einem befreundeten Schriftsteller namens Weidel zu bringen. In dessen Pariser Hotel muss Georg allerdings feststellen, dass sich Weidel aus Angst vor seinen deutschen Verfolgern das Leben genommen hat. Georg nimmt seine Hinterlassenschaften an sich, ein Manuskript und die Garantie eines Visums durch die mexikanische Botschaft. Er schafft es schließlich, sich bis nach Marseille durchzuschlagen, wo er viele andere Menschen treffen wird, die sich wie er im Transit befinden, im Schwebezustand des Unterwegsseins, in der existenziellen Unsicherheit der Frage nach dem Wohin. Er nimmt die Identität des verstorbenen Schriftstellers an und verliebt sich in die geheimnisvolle Marie (Paula Beer), die ihre Zeit an der Seite eines Arztes namens Richard (Godehard Giese) verbringt und mit diesem das Land verlassen will, aber eigentlich immer noch auf der Suche nach ihrem Mann ist – einem Schriftsteller, wie Georg erfährt, der an ein mexikanisches Visum gelangt ist, dann aber verschwunden ist.

Was Anna Seghers’ Roman so stark macht, ist neben seiner geraden, klaren Sprache auch die Idee des doppelten Geflüchtetseins: Georg hat nicht nur seine Heimat, er hat auch seinen echten Namen zurücklassen müssen. Christian Petzold schafft es meisterhaft, diese Stärken auf der Leinwand wirksam werden zu lassen. Die Off-Stimme von Matthias Brandt, der uns diese Geschichte erzählt und selbst in der Geschichte nur nebenbei als Barkeeper zu sehen ist, schafft eine fast nüchterne Distanz zum Geschehen, die es nur umso dramatischer und auswegloser erscheinen lässt. Denselben Effekt erzeugt die Entscheidung für das Cinemascope-Format, das die nötigen Räume bereitstellt, um den Figuren ihre Einsamkeit zu lassen, in die sie allesamt eingehüllt sind wie Insekten in Kokons.

Und Franz Rogowski als Georg ist der einsamste von ihnen. Einer, der nicht anders kann, als sich schuldig zu machen, und selbst daran zerbricht. Einer, der dem Kind eines verstorbenen Freundes auf so zugewandte Weise etwas vorsingen kann, dass man sich sofort in ihn verliebt. Einer, der nicht viele Worte machen muss und in dessen Augen wir stattdessen lesen können, was es heißt, entwurzelt zu werden und ein Flüchtling zu sein. Dieser Georg, das sind wir alle.

„Transit“ D 2018, 101 Min., ab 12 J., R: Christian Petzold, D: Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, täglich im Abaton, Holi, Studio, Zeise; www.transit-der-film.de