Hamburg/Berlin.

Allein die Farbe ihres Blazers ist ein Statement. So leuchtend blau wie Lapislazuli, dass es ihrem Gegenüber fast in den Augen schmerzt. So blau wie das Wasser in den Buchten der Karibik oder der Seychellen oder all den anderen Sehnsuchtsorten, deren Unterwasserwelten Sylvia Earle erforscht. Immer noch. Earle ist 82 Jahre alt, was man ihr kaum glauben will.

Zuletzt, eine Woche ist das her, ist die Ozeanografin vor der mexikanischen Halbinsel Yucatán abgetaucht, um zu gucken, wie sich die Natur dort entwickelt. In den Achtzigern war das Korallenriff, das zweitgrößte der Welt, so gut wie leer gefischt, bis es auf Drängen der Einheimischen zum Naturpark erklärt wurde. Jetzt sah Sylvia Earle Ammenhaie und Adlerrochen, Schildkröten und Schwärme von Stachelmakrelen, kunterbunte Fische und gesunde Korallengärten und kam zu dem Schluss: „Der Ort hat sich erholt, man hat sich darum gekümmert. Er ist ein Zeichen der Hoffnung.“

Earle hat das Riff im Golf von Mexiko deshalb zum „Hope Spot“ erklärt. Das sind noch intakte Meeresgebiete, für deren Schutz sich ihre Initiative „Mission Blue“ einsetzt. Die hat sie im Jahr 2009 gegründet, als sie den renommierten TED-Innovationspreis gewann. Damit verbunden ist der „Wunsch, die Welt zu ändern“. Ein bisschen ist ihr das gelungen. Mithilfe von Mission Blue konnte der Anteil von komplett geschützten Ozeanen von unter einem Prozent auf über drei Prozent erhöht werden, wie Earle sagt. „Unser Ziel ist es, auf 20 Prozent zu kommen. Wenigstens.“

Das erzählt Earle im Interview am Rande einer Podiumsdiskussion und anschließender Filmpremiere (s. Kasten) in Hamburg. Da ist die „Grande Dame der Meere“, eine leidenschaftliche Rednerin mit Pathos und Humor, Stargast. In den USA ist die in New Jersey geborene Amerikanerin ähnlich bekannt wie einst der Pionier der Meeresforschung, Jacques Cousteau. Sie hält es wie er: „Wenn du einen Fisch beobachten willst, musst du ein Fisch werden“, zitiert sie ihren damaligen Kollegen.

Auch Earles Vita ist ein einziger Tiefgang: Sie hat in ihrem Leben mehr als 7000 Stunden unter Wasser verbracht, als erste Frau mehrere Tage am Stück. Sie hält den Weltrekord im Solo-Tauchen, was ihr den Titel „Her Deep­ness“ einbrachte, in Anlehnung an „Ihre Hoheit“.

Earle hat 30 verschiedene Arten von Unterseebooten mit entwickelt und genutzt, um in immer größere Tiefen der Weltmeere vordringen zu können. Sie besitzt neben ihrem eigentlichen Doktortitel noch 22 Ehrendoktor-Würden, hat gut 200 wissenschaftliche Publikationen sowie Bücher über die Ozeane verfasst. Wer sie vorstellt, muss zwischendurch Luft holen: Earle war wissenschaftliche Leiterin bei der staatlichen National Oceanic and Atmospheric Administration NOAA, sie beriet die US-Weltraumbehörde Nasa, ist seit mehr als 20 Jahren für die National Geographic Society als Forscherin tätig und hat über 100 Expeditionen geleitet.

90 Prozent der großen Fischarten ausgelöscht

Als Earle in den 50er-Jahren begann, sich mit Fischen auseinanderzusetzen, „die in etwas anderem als Zitronenscheiben und Butter geschwommen sind“, konnten weder sie noch Jacques Cousteau sich vorstellen, wie schnell die Ozeane Schaden nehmen können. „Sie schienen damals wie ein Garten Eden zu sein“, sagt Earle. Doch seit den Achtzigern wurde sie Zeugin einer massiv um sich greifenden Zerstörung. „Vielleicht wirke ich manchmal radikal, aber das liegt daran, dass ich mehr gesehen habe als andere.“

Earle zählt auf: 90 Prozent der großen Fische, Haie, Thunfische, Schwertfische, Heilbutte und all die anderen Arten, die industriell gefischt werden, sind verschwunden. Etwa die Hälfte der Korallenriffe: tot. Große Teile des Ozeans: vermüllt, übersäuert, verseucht. Selbst bei ihrem tiefsten Tauchgang, etwa vier Kilometer abwärts, habe sie Müll und andere Spuren von Menschen gesehen. „Der Ozean ist nicht unendlich. Wir müssen endlich aufhören, zu denken, dass wir da alles rausholen und reinkippen können, ohne dass es Auswirkungen auf unseren Planeten hätte“, sagt sie. Denn erst das Leben im Ozean mache die Erde bewohnbar, alle Hauptelemente wie Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff, der Wasserzyklus seien mit dem Ökosystem der Ozeane verbunden.

Sylvia Earle wird nicht müde, diese Dinge zu beschreiben. 300 Tage im Jahr ist die 82-Jährige als Botschafterin für das Wohl der Meere in Bewegung – in der Luft, zu Lande und im Wasser. Forschungstauchgänge, Kongresse, Vorträge, Meetings mit der Unep, der Umweltdivision der Uno, der Weltnaturschutzunion IUCN, mit Nicht­regie­rungs-­organisationen, regionalen Umwelt-behörden, dazwischen dreht sie Dokumentationen für Netflix und die BBC, gibt Interviews für Medien aller Couleur.

Und jetzt Hamburg: Lachend verbeugt sich die Frau in dem ozeanblauen Blazer kurz, als sie unter tosendem Applaus auf dem Podium in der Laeiszhalle Platz nimmt. Da sitzen mit ihr Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter, Schauspieler und Umweltaktivist Hannes Jaenicke, der Berliner Korallenforscher Georg Heiss, der Chefredakteur des Wissenschaftsmagazins „Utopia“, Andreas Winterer, und Wayne Kafcsak, Direktor eines Luxushotels auf den Seychellen. Eine bunte Mischung von Meeresschützern.

Korallenforscher Heiss hat vor 20 Jahren das Programm Reef Check ins Leben gerufen, ein weltumspannendes Netzwerk aus Sporttauchern und Meeresforschern, die die Riffe regelmäßig nach einer Spezialmethode untersuchen. Kafcsak indes betreibt mit dem Fregate Island Resort im Indischen Ozean eines der luxuriösesten Insel-Resorts weltweit, in dem eine Übernachtung umgerechnet zwischen 2700 und 13.000 Euro kostet. Den betuchten Gästen wird dort, sofern sie das wollen, Umweltökologie nähergebracht. „Zu uns kommen Entscheider aus Politik und Wirtschaft, wir sorgen dafür, dass sie umdenken“, bekundet Hoteldirektor Kafcsak.

Die Grande Dame der Meere guckt skeptisch, betont, dass der Schutz der Meere ja nicht nur eine Frage der Reichen sei. Doch statt das weiter anzuprangern, versprüht sie lieber Hoffnung: „Heute sind wir klüger, wir wissen, dass wir etwas tun müssen, um unseren Planeten zu retten.“ Immerhin gebe es in den Ozeanen ja noch die Hälfte der Korallenriffe und zehn Prozent der großen Fische und Meeressäuger. Für sie, sagt Earle, sei es noch nicht zu spät.