Berlin.

Der erigierte Penis, der Phallus, gilt kulturhistorisch seit Jahrhunderten als Symbol für Kraft und Fruchtbarkeit. Doch eine Erektion, Voraussetzung für Geschlechtsverkehr und natürliche Fortpflanzung, ist keine Selbstverständlichkeit. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge haben etwa 150 Millionen Männer damit ein Problem, vier bis sechs Millionen seien es in Deutschland. Eine Erklärung vielleicht für den Erfolg dieser blauen, rautenförmigen Pille – Viagra.

Vor 25 Jahren sind Pharmaforscher auf der Suche nach einem Medikament gegen Bluthochdruck, als die männlichen Teilnehmer einer klinischen Studie in Wales von Nebenwirkungen berichten: Das Mittel mit dem Wirkstoff Sildenafil verschafft ihnen häufigere und längere Erektionen. „Das war der Durchbruch“, erinnert sich Chemiker David Brown in einem Interview mit „Bloomberg News“.

Fünf Jahre später, am 27. März 1998, lassen die Behörden das Potenzmittel für den US-Markt zu. Hersteller Pfizer hat sich dafür den Namen Viagra schützen lassen. Ein Kunstwort, das sich aus Vigor, lateinisch für Stärke, und Niagara zusammensetzt, vermutlich eine Anspielung auf die Wucht der gleichnamigen Wasserfälle.

Bereits im Mai 1998 berichtet das „Time“-Magazin von einer „Viagra-Begeisterung“ in den USA. Wenige Wochen später, als die Pille auch in Europa erhältlich ist, unken Medien von einer bevorstehenden „Sex-Revolution“. In kurzer Zeit wird die Marke Viagra so bekannt wie Coca-Cola.

Für den Hersteller entwickelt sich der Zufallsfund zum großen Geschäft. Bereits im Jahr der Zulassung setzt Pfizer damit mehr als eine Milliarde Dollar um. Seitdem hat das Mittel allein in den USA Erlöse von mehr als 17 Milliarden Dollar eingebracht. Firmenangaben zufolge sollen weltweit über 64 Millionen Männer mehr als drei Milliarden Tabletten geschluckt haben.

Der Nimbus des Zaubermittels sei zurechtgerückt worden

„Der Erfolg des Mittels ist nicht überraschend. Die Mannheit hatte seit Jahrhunderten danach gelechzt, ein wirksames Hilfsmittel zu finden, das eine Erektion erhalten kann“, sagt Jakob Pastötter, Sexualwissenschaftler, Kulturanthropologe und Präsident der Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung. Viagra habe den Nimbus eines Zaubermittels bekommen, das alle sexuellen Probleme lösen könne. Ein Nimbus, der mittlerweile zurechtgerückt worden sei.

In biologischer Hinsicht ist die Erektion des Mannes eine komplexe Sache. Reize aus dem für sexuelle Stimulation zuständigen Hirnbereich sorgen dafür, dass 20- bis 40-mal mehr Blut in den Penis fließt. Dieser besteht aus ex­trem variablen Blutgefäßen, die von glatten, normalerweise angespannten Muskelsträngen umgeben sind. Durch die Reize erschlaffen die Muskeln um die Arterien im Genitalbereich, die Schwellkörper füllen sich mit Blut, das gleichzeitig kleine Venen abdrückt – der Penis wird steif.

Angst, Stress oder organische Pro­bleme wie Diabetes, Bluthochdruck oder eine Herzkrankheit können diesen Ablauf stören. Der Wirkstoff Sildenafil soll einer Studie von 2009 zufolge etwa 70 Prozent der Männer mit akuten Erektionsproblemen helfen können. Es handelt sich um einen sogenannten PDE-5-Hemmer, der ein Enzym blockiert, das für den Blutabfluss verantwortlich ist. Es bleibt in den Schwellkörpern, die Erektion verstärkt sich und hält länger an.

„Sildenafil allein kann keine Erektion aufbauen. Viagra ist kein Aphrodisiakum. Die Lust muss schon woanders herkommen“, sagt Jakob Pastötter. Für ihn, der auch als Sexualtherapeut arbeitet, liege darin eines der großen Missverständnisse: „Mechanik ist wichtig, aber nicht alles.“

Trotzdem – Viagra veränderte vieles: Männer trauen sich erstmals im größeren Stil, über ihre Probleme im Bett zu sprechen. „Früher haben sie oft zehn bis 20 Jahre gewartet. Jetzt kommen Patienten teilweise schon nach drei bis sechs Monaten zu mir“, sagt Urologe Frank Sommer, Universitätsprofessor für Männergesundheit in Hamburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit. Aus dem Problem Impotenz, für viele Betroffene mit sozialem Stigma versehen, wird eine sachlich klingende Diagnose: erektile Dysfunktion. Die Pillen-Therapie bietet dabei große Vorteile. „Vorher musste man sich eine Spritze in den Penis setzen, was natürlich die allerwenigsten wollten. Man konnte sich am Penis operieren lassen oder musste eine Vakuumpumpe mit Ringen verwenden“, berichtet Sommer von den Alternativen.

War es anfangs noch pikant, Viagra und seine Wirkung zu erklären – im US-Fernsehen durfte Werbung erst nach 23 Uhr laufen, und die Schauspieler trugen in den Spots sichtbar einen Ehering –, sei es mittlerweile selbstverständlich, unaufgeregt darüber zu sprechen. „Das Mittel erscheint – vergleichbar mit dem Zähneputzen – als in den Alltag inte­griert“, bilanziert Claudia Sontowski in ihrer Dissertation „Viagra im Alltag“.

Für ihre Arbeit, die 2016 veröffentlicht worden ist, hat die Sozialwissenschaftlerin viele Nutzer interviewt. Die Einnahme und der damit verbundene Nutzen seien „divers und sehr persönlich“, schreibt Sontowski. Viagra diene dazu, Unabhängigkeit von körperlichen Beschränkungen zu erreichen und Versagensängste zu bearbeiten. Es werde in unterschiedlichen Facetten als notwendiges Medikament, als pragmatische Unterstützung, als Anti-Aging-, Beziehungsmittel oder Sexspielzeug verwendet, so Sontowski. Und: Die blaue Pille verspreche, Körper und Männlichkeit formbar zu machen.

Für Sexualforscher und Therapeut Pastötter hat Viagra manchen Männern dabei geholfen, ihr Selbstwertgefühl zurückzugewinnen. Vor allem aber habe es dazu beigetragen, mit dem Mythos einer einfach gestrickten Sexualität aufzuräumen. „Viele Männer haben durch Viagra verstanden, dass es für eine wirkliche sexuelle Befriedigung mehr braucht als eine Erektion.“

Neben Biologie und Kulturgeschichte hat aber wohl ein weiterer Umstand den Erfolg des Medikaments unterstützt: der Zeitgeist. Sozialwissenschaftlerin Sontowski beschreibt das als „Veralltäglichung der Medikamenten-Einnahme zur technisch-pharmakologischen Modifikation des Körpers“. Therapeut Pastötter nennt es „Doping“. „Im Schnitt haben zwei Drittel aller Männer nur etwa drei Minuten Geschlechtsverkehr bis zur Ejakulation“, erklärt er. Anfangs hätten vor allem ältere Männer Viagra genommen, mittlerweile würden auch viele Jüngere zu dem Mittel greifen. „Sie sind – beeinflusst von Pornografie – der Auffassung, eine ausdauernde Erektion gehöre zur Leistungsfähigkeit dazu.“ (mit dpa)