Die „Harding/Kerrigan-Affäre“ gehört zu jenen Geschichten, die man kaum hätte erfinden können. Märchenhafte Elemente kreuzen sich mit den sozialen Härten der US-Gesellschaft, und beides wirkt gleichermaßen übertrieben. Als ein Duell zwischen „Schneewittchen“ und „Eishexe“ hat man die Konkurrenz zwischen den Eiskunstläuferinnen Nancy Kerrigan und Tonya Harding schon vor dem Attentat von 1994 beschrieben – und den beiden Frauen damit bestimmte Rollen zugewiesen.

Nancy Kerrigan war die elegante Läuferin aus gutem Haus, eine junge Frau, die man gern auf dem Siegerpodest sah. Ton­ya Harding dagegen war „proletarisch“ und athletischer, sie wagte die größeren Sprünge, ließ aber sowohl bei der Zurückhaltung im Auftreten als auch beim Geschmack in der Kostümauswahl einiges zu wünschen übrig. Und sie beklagte sich oft bei den Preisrichtern über ungerechte Behandlung. Sie war nicht beliebt. Die Olympischen Winterspiele 1994 im norwegischen Lillehammer sollten der große Showdown zwischen ihnen werden. Doch wenige Wochen zuvor schlug ein Unbekannter Nancy Kerrigan nach einem Wettbewerb mit einem Baseballschläger in die Beine.

Dann stellte sich heraus, dass Hardings Ex-Mann etwas damit zu tun hatte. Bis heute streitet man sich darüber, ob sie selbst den Anschlag mitinitiiert hatte. Die böse Eishexe war gegen das schöne Schneewittchen tätlich vorgegangen: Eine solch deutliche Bestätigung der medialen Rollenzuschreibungen hätten sich selbst die, die sie erfunden haben, kaum träumen lassen.

In Craig Gillespies Film ergibt das Ganze eine so seltsame Mischung aus Farce und Thriller, dass man sich als Zuschauer die erste halbe Stunde fast unwohl fühlt. Gillespie nutzt das abgegriffene Mittel des Mockumentary, um einzusteigen. Also sieht man erst eine Reihe nachinszenierter Interview-Sequenzen. Darin sitzt Tonya Harding (Margot Robbie) in der Küche und blickt trotzig in die Kamera, ihr Ex Jeff (Sebastian Stan) outet sich als Dumpfbacke, und Mutter LaVona wirkt mit Sauerstoffkanüle in der Nase nur bizarr. Allison Janney erhielt dafür einen Oscar als beste Nebendarstellerin. Soll man über die verhärmte Mutter lachen, die den Papagei auf ihrer Schulter scherzhaft als ihren sechsten Ehemann lobt? Soll man Mitleid haben mit der Mittvierzigerin Harding, deren Sportkarriere vor 24 Jahren endete? Auf welcher Seite steht dieser Film überhaupt?

Die ambivalente Haltung des Films erweist sich als echter Gewinn

In Spielfilmszenen, die immer wieder von den Pseudo-In­terviews unterbrochen werden, erzählt „I, Tonya“ dann die Lebensgeschichte von Tonya Harding, vom „Entdecktwerden“ im zarten Alter von vier Jahren bis hin zu den Olympischen Spielen 1994, bei denen Harding den achten Platz erreichte, während Nancy Kerrigan, von ihrer Attentatsverletzung erholt, Silber erkämpfte.

Und nach und nach erweist sich die ambivalente Haltung des Films, diese merkwürdige Mischung aus dramatischen und humoristischen Elementen, als echter Gewinn: Während er die Frage offenlässt, ob man nun in Tonya Harding eine unsportliche Mitverschwörerin sehen muss oder ob sie selbst Opfer tragischer Umstände ist, weckt Gillespie das Interesse am Fall auf ganz neue Weise.

Mit schmerzlicher Genauigkeit und Margot Robbie in Höchstform zeigt „I, Tonya“, mit wie viel Missbrauch ein Aufwachsen im White-Trash-Milieu einhergeht. Tonya wird von ihrer Mutter schon so mit Beschimpfungen und Schlägen getriezt, dass sie die Prügel ihres ersten Ehemanns fast gewohnheitsmäßig hinnimmt. Während die ausagierte Grobheit der Figuren einen als Zuschauer daran hindert, allzu viel Mitleid zu empfinden, nötigt die Beharrlichkeit, sich in widrigen Umständen zu behaupten, auch viel Respekt ab.

So erscheint einem Tonya Harding auch nach dem Film noch als zwiespältig – aber es fällt viel schwerer, sie zu verurteilen.

„I, Tonya“ USA 2017, 119 Minuten, ab 12 Jahren, Regie: Craig Gillespie, Darsteller: Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney, täglich im Abaton (OmU), Savoy (OF), Studio (Omu), UCI Mundsburg, Zeise (OmU)