Marseille.

In seinem gut geschnittenen Tweed-Anzug sieht Jacques Cassandri aus wie ein Banker im Ruhestand. Doch der 74-Jährige, der jetzt in Marseille vor Gericht steht, ist das genaue Gegenteil: Er soll der wohl größte Bankräuber Frankreichs sein. Laut Überzeugung der Kripo war Cassandri der Kopf jener Gaunerbande, die 1976 in Nizza den „Coup des Jahrhunderts“ landete.

Rund 30 Gangster sind damals durch einen über zwölf Wochen hinweg gegrabenen Tunnel in den Tresorraum einer Filiale der Großbank Société Générale eingedrungen und erbeuteten Geld, Schmuck sowie Wertpapiere im Wert von 60 Millionen Franc. Und Cassandri tut alles, um seinen Ruf als Gangster zu etablieren. In einem Buch berichtet er voller Stolz unter dem Pseudonym „Amigo“, dass er es war, auf dessen Konto der legendäre Coup zu gehen hat.

„Kein Schuss, keine Gewalt, kein Hass“ – dieser mit Kreide auf die Wand geschriebene Spruch war alles, was die Täter hinterließen, nachdem sie in aller Ruhe während eines wegen des französischen Nationalfeiertags verlängerten Juliwochenendes 400 Tresorfächer ausgeräumt hatten. Die Höhe der Beute, die perfekte Organisation und der die Ermittler verhöhnende Kreidespruch sorgten dafür, dass der Rekordbruch als „Casse du siècle“ (Jahrhundertraub) in die französische Kriminalgeschichte einging, nicht weniger als vier Mal verfilmt und in zahlreichen Büchern bis hin zu Ken Folletts Bestseller „Cool – Der Bankraub von Nizza“ nacherzählt wurde.

Während die Millionenbeute verschollen blieb, kam die Polizei nach einigen Monaten auf die Spur der Bande und verhaftete auch den italienischen Abenteurer Albert Spaggiari. Doch nachdem Spaggiari sich im Verhör als Drahtzieher des spektakulären Bankraubs bezeichnet hatte, gelang ihm durch einen Sprung aus dem zweiten Stock des Justizpalastes von Nizza eine ebenso spektakuläre Flucht. Er wurde zwar in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt, konnte jedoch bis zu seinem Lebensende 1989 nicht wieder gefasst werden.

Erst 2010 sorgte das Erscheinen eines Buches dafür, dass sich die Kripo erneut mit dem längst zu den Akten gelegten Fall beschäftigte. „Die Wahrheit über den Bruch von Nizza“ lautete der Titel des Werks, in dem sich der Autor nicht nur brüstet, der wahre Organisator des Jahrhundertcoups zu sein. Er plaudert auch zahlreiche Details über den Tathergang aus, die nie an die Öffentlichkeit gelangt waren.

Die Ermittler finden rasch heraus, dass sich hinter dem Pseudonym Jacques Cassandri verbirgt. Der wegen Drogenhandels und Zuhälterei vorbestrafte Korse, der rund zehn Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht hat, galt lange als einer der „Paten“ des berüchtigten Marseiller Milieus. Letzteres konnte dem Mann trotz aller Anstrengungen bis heute nicht nachgewiesen werden. Auch im Zusammenhang mit dem Bankraub von Nizza war sein Name nie gefallen.

Ein Umstand, der Cassandri offenbar so fuchste, dass er sich entschloss, die Dinge richtigzustellen. Ohne Risiko, wie er geglaubt haben muss, schließlich ist die Tat seit Langem verjährt. Doch der eitle Herr könnte sich verkalkuliert haben.

Nachdem die französischen Ermittler bei einer Hausdurchsuchung auf der Festplatte seines Computers tatsächlich die Urfassung von „Die Wahrheit über den Bruch von Nizza“ sicherstellen konnten, sieht er sich nun wie Al Capone der Steuerhinterziehung angeklagt. Cassandri soll erklären, wie er Ende der 1970er-Jahre urplötzlich zu dem vielen Geld kam, mit dem er in Marseille eine stattliche Villa, ein Restaurant und einen Nachtclub sowie in Korsika ein halbes Dutzend Grundstücke erwarb.