Berlin.

Deutschlands Energiewende gleicht einem Puzzlespiel. Wer keinen Atomstrom mehr möchte, wer die Braunkohle im Boden lassen und die dreckigsten Kohlekraftwerke abschalten will, kann mehr Windräder und Solaranlagen bauen. Er muss als Übergang aber auch mehr Erdgas verbrennen. Genau dieses kleine Puzzleteil aber erinnert daran, dass in der Energielandschaft Deutschlands alles mit allem zusammenhängt und nichts ohne Wirkung ist. So kommt es, dass ein kleines Erdbeben im Norden der Niederlande die deutsche Gaswirtschaft erschüttert.

Gerade acht Tage alt war das Jahr, als in der niederländischen Provinz Groningen nahe der Grenze die Erde bebte. Es waren die zweitstärksten Erdstöße, die die Region jemals erlebte. Das Epizentrum lag in Zeerijp, einem 440-Seelendorf im Norden der Provinz. Dort erreichte das Beben 3,4 auf der Richterskala. Menschen wurden nicht verletzt, an Hunderten Gebäuden aber richteten die Bodenschwankungen Schäden an.

Über 100.000 Häuser und Wohnungen beschädigt

Die 600.000 Menschen in der Provinz Groningen sind an Beben gewöhnt. Sie leben auf einer riesigen Erdgasblase, die seit 50 Jahren angezapft wird. Als Folge der Gasförderung treten seit Ende der 80er-Jahre immer häufiger Erdbeben auf. Geologen sprechen von „induzierten Erdbeben“: Wo Kohle gefördert wird, Salz oder Gas, lösen sich Spannungen im Untergrund. Es ist der Mensch, der die Erde erzittern lässt.

Hier im Norden der Niederlande, am Rand der Nordsee, befindet sich in 3000 Meter Tiefe Europas größtes Erdgasreservoir. 900 Quadratkilometer groß und bis zu 300 Meter dick ist es. Ein Schatz für die Niederlande. Jährlich 15 Milliarden Euro trägt die Erdgasförderung zum Sozialprodukt bei. Geliefert wird vor allem an den großen Nachbarn: Über ein Viertel des deutschen Jahresbedarfs kommt aus dem Gasfeld, es ist ein Stück Sicherheit: Wann immer Deutschland Wege aus der Energieabhängigkeit von Russland suchte – sie führten stets nach Groningen. Nun leert sich das Gasfeld – mit gravierenden Folgen: Die Erde bebt heftig.

Tausende Geschädigte in Groningen haben sich in den vergangenen Jahren bei der Gasfördergesellschaft NAM gemeldet, an der die Energiekonzerne Shell und ExxonMobil beteiligt sind. Laut einer Studie der Universität Groningen sind inzwischen über 100.000 Wohnungen und Häuser in der Provinz durch die Erschütterungen beschädigt, ein Viertel dieser Häuser mehrfach. NAM hat laut niederländischer Regierung 100 Millionen Euro zusätzlich für die Schadensbeseitigung bereitgestellt. Doch die Anwohner bezweifeln, dass das Geld reicht. Ein Forscherteam aus den Niederlanden und Südkorea hat berechnet, wann und wie heftig ein verheerendes Erdbeben die Provinz heimsuchen könnte. Gehe das Fördertempo unverändert weiter, seien im Jahr 2025 täglich Erdbeben der Stärke von 0 bis 4 zu erwarten. Ein schwereres Beben sei dabei einmal pro Jahr möglich.

Der Protest der Bürger zeigt nun Wirkung. Die niederländische Behörde für Bergbausicherheit hat die Regierung in Den Haag vor wenigen Tagen aufgefordert, die Erdgasförderung in Groningen um fast die Hälfte zurückzufahren. Das Ministerium solle „so schnell wie möglich“ dafür sorgen, dass jährlich nicht mehr als zwölf Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert werden. Zuletzt lag die Fördermenge bei 21,6 Milliarden Kubikmeter. Ein harter Schnitt, denn die Niederlande würden im Jahr Einnahmen von mehreren Milliarden Euro verlieren. Doch die Aufsichtsbehörde argumentiert: Mit der Obergrenze für 2018 bis 2022 könne man schwere Erdbeben ausschließen und die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten. Eine Entscheidung des niederländischen Wirtschaftsministers Eric Wiebes wird für März erwartet.

Die Schockwellen dieser Nachricht haben Deutschland erreicht. Drehen die Niederländer den Deutschen den Gashahn zu, ist das größte Infrastrukturprojekt der deutschen Erdgasversorgung gefährdet: die Umstellung der Gasnetze auf eine andere Gasqualität.

Was in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: In Deutschland gibt es zwei unterschiedliche Qualitäten von Gas. Aus Groningen und einigen Stellen in Deutschland stammt das L-Gas („low calorific gas“). Es hat einen niedrigen Brennwert und wird vorwiegend in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt sowie Bremen verbraucht. Der überwiegende Teil Deutschlands indes wird mit H-Gas („high calorific gas“) versorgt. Es kommt aus Norwegen, Russland oder Großbritannien und hat einen höheren Methangehalt. Bei der Verbrennung setzt es mehr Energie frei als L-Gas. Das Problem: Millionen Heizungen und Industrieanlagen im Norden und Westen Deutschlands funktionieren nur mit L-Gas.

„Ich möchte keine Panik schüren, aber ich sehe ein Risiko für die Versorgungssicherheit“, sagt Prof. Christian Held von der Kanzlei Becker Büttner Held. Sie vertritt die Arbeitsgemeinschaft Erdgasumstellung (Arge EGU), in der sich 44 Verteilnetzbetreiber zusammengeschlossen haben.

Seit 2015 arbeiten die Betreiber der Verteilnetze an der Mammutaufgabe, 100 Gasnetze und über 5,5 Mio. Geräte in Deutschland auf H-Gas umzustellen: von der Gasheizung im Keller über Warmwasserbereiter, Gasherde und Gaskamine bis zur industriellen Gasanwendung. Bislang galt der Zeitplan: Bis 2030 sollen im Jahr bis zu 550.000 Geräte in den betroffenen Regionen angepasst werden. 1000 speziell geschulte Monteure werden im Einsatz sein, überprüfen und gegebenenfalls umrüsten. Das Problem: Noch sind dafür kaum Kapazitäten aufgebaut worden. Das noch größere Problem: Kürzen die Niederlande die Lieferung von L-Gas drastisch, muss die Umstellung in Deutschland auf H-Gas viel schneller erfolgen.

„Die Umstellung zu beschleunigen, ist nach derzeitigem Stand schwer möglich“, sagt Held. „Es gibt keinen Plan B.“ Möglich sei es, Deutschland Zeit zu verschaffen, indem H-Gas Stickstoff beigemischt werde und somit zu L-Gas umgewandelt werde. „Das aber bedeutet, dass wir in Deutschland Konvertierungsanlagen aufbauen müssten“, sagt Held. „Diese Anlagen aber baut man nicht über Nacht. Diesen Engpass haben die Netzbetreiber schon vor Jahren erkannt.“ Im Netzentwicklungsplan aber seien Risikoszenarien des versiegenden Gasfelds nicht vorgesehen. „Die Bundesnetzagentur ist nun in der Pflicht, für eine Absicherung zu sorgen“, sagt Held. „Es muss so schnell wie möglich mit der niederländischen Regierung geklärt werden, wie viel L-Gas in den nächsten Jahren zur Verfügung steht.“

Die Bundesnetzagentur in Bonn bestätigt auf Anfrage zwar, dass die Förderung von L-Gas in den kommenden Jahren zurückgefahren werde, nennt aber keine Details. Zeitnot sieht die Behörde offenbar nicht: „Die Gasversorgungssicherheit in Deutschland ist sehr hoch“, sagte ein Sprecher, die Umstellung laufe planmäßig. In der Gaswirtschaft wird das ganz anders gesehen.