Jan Speckenbachs Drama „Freiheit“ interpretiert Ibsens Nora neu, ist aber leider ärgerlich verkopft und kalt geraten

Nora, so lautet der Name der Ibsen-Heldin. „Nora oder ein Puppenheim“ erschien 1879 und sprengte alle Konventionen: eine Ehefrau und Mutter, die ausbrechen will, die Gatten und Kinder zurücklassen möchte, um sich selbst zu finden. Denn bislang wird sie immer nur von den anderen benutzt: Noras Ehemann hat sich eine attraktive „Trophy-Wife“ geangelt, eine junge Vorzeigefrau. Und die Kinder? Lassen sich gerne von ihr bespaßen. Doch wo, fragt sich Nora, bleibe ich? Bei der deutschen Uraufführung 1880 durfte Nora die Familie nicht verlassen, die Sprengkraft dieses Finales schien den damaligen Theatermachern doch zu groß für die Zeitgenossen.

Doch die Welt ist längst eine andere, über ein Jahrhundert später. Scheidungen sind heute Alltag, Patchwork ist normal. Und die neue, moderne Nora? Die verlässt natürlich konsequent Mann und Kinder.

Sie lässt sich von einem Jüngelchen an der Supermarktkasse abschleppen

In „Freiheit“ ist Nora (Johanna Wokalek) zu Beginn des Films schon länger unterwegs. Eine attraktive Frau, gediegener Schmuck, die sich in Wien an der Supermarktkasse von einem Jüngelchen abschleppen lässt. Wenig später landet man in seinem studentischen Futonbett. Sex, ein bisschen Nähe. Als sie ins Bad geht, durchsucht er ihre Handtasche, stellt fest, sie heißt ganz anders, als sie sich vorgestellt hatte. Fluchtartig zieht Nora sich an und wandert weiter. Nach Bratislava.

Gegengeschnitten werden diese modernen Nora-Momente mit Szenen aus Berlin. Dort wohnt ihre Familie – gediegen am Kaiserdamm, zwei Kinder, der Ehemann ist Anwalt. Es wird das Leben ihres Mannes Philip (Hans-Jochen Wagner) gezeigt, wie er versucht, das neue Leben als Alleinerziehender zu stemmen. Nora, die Mama, ist weg. Eine Erklärung gibt es dafür nicht.

Welche gutbürgerliche Familie macht den Späteinkauf an der Tanke?

Tatsächlich kommt es selten vor, dass Frauen ihre Kinder für immer verlassen. Erzählen sie von ihren Beweggründen, so spürt man, sie fühlten sich von Beginn an fremd in der Mutterrolle. Doch diese Nora ist anders. Sie wirkt zerrissen zwischen dem Wunsch nach Freiheit und einer Sehnsucht nach ihren Kindern (wohl weniger nach ihrem Mann).

Leider ist der Film von Jan Speckenbach ärgerlich verkopft und kalt. Und auch ungenau. Welche gutbürgerliche Familie macht wochentags den Späteinkauf an der Tanke, wo doch in Berlin alle Supermärkte offen haben? Dies soll doch angeblich ein Porträt des neuen Bürgertums sein.

Die Kinder haben keine Waffenspielzeuge, Fernsehen nur nach Absprache, zum Abendessen nur Selbstgekochtes. Niemals gehen die an der Tankstelle ihr Brot einkaufen. Das mag eine Kleinigkeit sein, aber solche Ungenauigkeiten häufen sich.

Der Film ist symbolisch überladen und gleichzeitig unpräzise. Die Kälte nervt, mit der alle miteinander umgehen. So benehmen sich keine Menschen. Selbst bürgerliche nicht.

„Freiheit“ D/SK 2017, 103 Min., ab 12 J.,
R: Jan Speckenbach, D: Johanna Wokalek,
Hans-Jochen Wagner, Inga Birkenfeld,
täglich im 3001; www.filmkinotext.de/freiheit.html