Berlin.

Zwei Stunden auf großer Bühne alles geben, herumspringen, tanzen und singen gleichzeitig? Es geht nicht. „Lady Gaga leidet unter heftigen Schmerzen, die ihre Fähigkeit, live aufzutreten, wesentlich beeinträchtigen“: Mit dieser Erklärung sagte der Konzertveranstalter am Sonnabend die letzten zehn Konzerte einer Europatour der US-Popikone ab. Sie sei am Boden zerstört, aber dies gehe über ihren Einflussbereich hinaus, schreibt Lady Gaga selbst bei Twitter. Nicht die erste Absage mit der Begründung, zuletzt entschied sie sich im Herbst dazu. Sie erklärte, sie leide unter Fibromyalgie. Übersetzt heißt das Faser-Muskel-Schmerz. Damit ist das Problem zwar im Kern, aber nicht in seinen komplexen Auswirkungen beschrieben.

Schmerzen in Muskeln und Gelenken am ganzen Körper, Schlafprobleme, sinkende Belastbarkeit – und eine
Ärzte-Odyssee: So erklärt Bärbel Wolf, die Vorsitzende der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung (DFV), was jeder Betroffene erlebt. „Die eine Woche tut mir die Schulter weh, die nächste das Knie, außerdem bin ich immer so erschöpft. Aber der Arzt will erstmal die Schulter untersuchen. Natürlich findet er nichts.“ Und dann? „Anfangs nimmt man es so hin. Aber die Schmerzen bleiben“, sagt Wolf.

Sie können in den Füßen auftauchen, was das Laufen erschwert, oder als brennender Schulterschmerz, was vom Schlafen abhalten kann, weil die Matratze drückt. Oder sie strahlen durch die Beine, von Hüfte zu Fuß. Alles phasenweise und tagesformabhängig. Dazu kommen bei vielen Patienten weitere Symptome, körperliche wie Verdauungsbeschwerden, psychische wie Depressionen.

Seit 2014 als eigenständige Erkrankung geführt

Seit 2014 wird das Fibromyalgie-Syndrom, kurz FMS, von der Weltgesundheitsorganisation WHO als eigenständige Erkrankung geführt unter „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes, anderenorts nicht klassifiziert“. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung in westlichen Industrienationen sind betroffen, vor allem Frauen, besonders jene zwischen 40 und 60. Aber auch Männer und sogar Kinder können betroffen sein. Oder jüngere Frauen – wie Lady Gaga, 31. Das alles ist bekannt. Trotzdem hören Patienten, die ihren Arzt fragen, ob sie vielleicht daran erkrankt sein könnten, bis heute immer wieder: „Fibromyalgie? Gibt’s doch gar nicht.“

„Generell tun sich Ärzte schwer, Diagnosen zu stellen, für die sie keine Laboruntersuchungen oder Röntgenuntersuchungen haben“, sagt Professor Winfried Häuser. Der Facharzt für Innere Medizin und Psychosomatische Medizin am Klinikum Saarbrücken hat die interdisziplinäre Leitlinie zum Fibromyalgie-Syndrom koordiniert. Er vergleicht die Diagnose mit der von Erkrankungen wie Migräne. „Man befragt den Patienten über seine Beschwerden, und wenn diese bestimmte Kriterien erfüllen, ist die Diagnose auch ohne Laborbefund eindeutig.“ (siehe Kasten)

Wie und warum Fibromyalgie entsteht, weiß man noch nicht. Immerhin so viel: „Eine familiäre Häufung, langanhaltender Stress und belastende Lebensereignisse sind als Ursache gesichert“, sagt Häuser. Bei 20 Prozent der Patienten gibt es hier allerdings keine Auffälligkeiten. Risikofaktoren sind außerdem entzündlich-rheumatische Erkrankungen, Rauchen, Übergewicht, mangelnde körperliche Bewegung. Nichts, was nicht auch zu anderen Krankheiten führen könnte.

Im Vergleich zu gesunden Menschen sind bei FMS-Patienten Unterschiede bei der Reizverarbeitung im Gehirn nachgewiesen worden. Auch Veränderungen der kleinen Nervenfasern, die an der Schmerzempfindung in der Haut beteiligt sind, wurden bei einigen Patienten gefunden. Aber: „Es ist nicht klar, was Ursache ist und was Wirkung“, betont Winfried Häuser. Ziel einer Therapie ist, das Leben so einzurichten, dass die Schmerzen nicht zu allzu großen Einschränkungen führen.

Gängige Schmerzmittel wie Aspirin oder Ibuprofen wirken kaum bei Fibromyalgie. Starke, opioidhaltige Schmerzmittel werden nicht empfohlen. „Es gibt keine guten Studien, die eine Wirksamkeit belegen, jedoch gute Studien, die einen Schaden der Patienten durch erhebliche Nebenwirkungen belegen“, sagt Winfried Häuser. Manchen Betroffenen – auch ohne Depression – helfen Antidepressiva, genauer das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin: Es beeinflusst die Schmerzwahrnehmung. Es gibt jedoch keine eigene „Fibromyalgie-Medizin“, und ob ein Mittel wirkt oder nicht, ist von Patient zu Patient unterschiedlich.

In Bewegung zu bleiben, ist die erste Empfehlung der Ärzte

Bärbel Wolf hat ihre Krankheit – das findet sie wichtig – inzwischen akzeptiert. Sie kennt keinen Tag mehr ohne Schmerzen. In schlimmen Zeiten schläft die 59-Jährige nur zwei Stunden. Kraft tankt sie durch ihr Engagement für andere Betroffene und durch ihr Hobby, das Nähen. Außerdem ist ihr Bewegung wichtig – Funktionstraining wie Wassergymnastik, aber auch Gartenarbeit, mäßiges Nordic Walking, Radfahren. „Wenn ich mich nicht bewege, wird es schlimmer“, sagt sie. Damit ist Wolf Musterpatientin, denn in Bewegung zu bleiben trotz Schmerzen, ist die erste Empfehlung der Ärzte. „Körperliche Bewegung ist ein Breitbandtherapeutikum in der gesamten Medizin“, betont Professor Häuser.

Bärbel Wolf schwört außerdem auf Achtsamkeits- und Genusstraining. „Auf Kleinigkeiten achten. Zum Beispiel, wenn morgens der erste Tropfen Wasser auf das frisch gemahlene Kaffeepulver im Handfilter fällt: Den Duft wahrzunehmen, darum geht’s.“

In 90 Prozent der Fälle helfe Fibromyalgie-Patienten eine Kombination aus Bewegung, psychologischen Verfahren und physikalischen Maßnahmen wie Wärme, sagt Winfried Häuser. Solche sogenannten multimodalen Schmerztherapien werden auch stationär angeboten. Alle Bausteine zusammen sollen das Leben mit den Schmerzen erträglich machen.