Berlin.

Ob in Lunge, Darm, Brust, Gehirn oder anderswo – Krebszellen können sich nicht nur in ganz unterschiedlichen Organen des Körpers bilden, sie werden mittlerweile auch in eine Vielzahl von Untergruppen unterteilt. „In der Onkologie können wir die Krankheiten heute viel besser charakterisieren, sowohl molekular als auch immunologisch“, erklärt Bernhard Wörmann, medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). „Aufbauend auf diesen grundlagentheoretischen Erkenntnissen der letzten Jahre sind nun sehr viele Medikamente entwickelt worden.“

Aus Wörmanns Sicht ist das grundsätzlich eine positive Entwicklung. Tumore könnten so nicht nur besser bestimmt, sondern vielen Patienten auch gezieltere Medikamente verabreicht werden. „Gerade beim Lungenkrebs ist das ganz individuell geworden“, sagt der Mediziner von der Berliner Charité. „Hier haben wir mehrere molekulare Untergruppen und dann haben wir noch eine immunologische Trennung, sodass wir bei Lungenkrebs-Patienten inzwischen mit bis zu zehn verschiedenen Therapie-Strategien arbeiten.“ Lautet die Diagnose Krebs, ist die Lunge bei Männern mit am häufigsten betroffen. Das zeigt der aktuelle Bericht „Krebs in Deutschland“, der vom Zentrum für Krebsregisterdaten des Robert-Koch-Instituts und von der Gesellschaft der Epidemiologischen Krebsregister in Deutschland erarbeitet wird.

Insgesamt erkranken in Deutschland laut Bericht jedes Jahr fast 480.000 Menschen neu an Krebs. Für 2018 rechnen die Autoren mit einem weiteren Anstieg der Fälle. Auch wenn sich die Überlebenschancen den Angaben zufolge verbessert haben, sind die Fortschritte so individuell wie die Krankheitsbilder selbst. Genauso sehe es auch mit der Wirksamkeit neuer Medikamente aus, sagt Wörmann. Bleibe man beim Beispiel Lungenkrebs, gebe es Medikamente, die bei 70 bis 80 Prozent der Patienten wirkten und zu einer für die DGHO „beeindruckenden Verlängerung der Überlebenszeit“ führten. Bei anderen sei das Ansprechverhalten nur geringfügig besser als bei etablierten Therapien – und auch die verlängerte Überlebenszeit sei nur in Wochen zu rechnen.

Patienten hoffen auf jeden kleinen Fortschritt

Für Betroffene sind dies dennoch Hoffnungsschimmer, die es aber nicht bei allen Krebserkrankungen gibt. Bei bösartigen Hirntumoren fehlen sie aktuell. „Zwar gibt es hochrangige Forschungsarbeiten und die komplizierte Erkrankung wird besser verstanden“, resümiert Wolfgang Wick von der Uniklinik Heidelberg, Sprecher der Neuroonkologischen Arbeitsgemeinschaft, „aber wir haben diesen Strom von Patienten, die jetzt mit neuen Medikamenten verwöhnt werden, in unserem Bereich tatsächlich nicht erlebt.“ Neuzulassungen von Medikamenten für Hirntumore gab es in Europa zuletzt nicht.

Nicht verwunderlich ist aus Sicht der Experten also, dass sich Betroffene und deren Umfeld, gerade in fortgeschrittenen Krankheitsstadien, an jeden Strohhalm klammerten. „Da gibt es eine uns alle betreffende Verzweiflung, dass wir sagen, warum passiert eigentlich nicht mehr für diese Patienten“, sagt Wick. Aus diesem Impuls heraus würde über alternative Therapieansätze oft zu früh berichtet und so würden ohne Wirksamkeitsnachweis falsche Hoffnungen geweckt. Dem Neurologen zufolge sind die Themen regional unterschiedlich: „Im französischen Sprachraum ist Cannabis ein großes Thema, im deutschsprachigen ist es Methadon.“ Den Einsatz beider Substanzen in der Krebstherapie sehen Wick und viele Kollegen derzeit kritisch.

Eine Mitgliederbefragung der DGHO im Herbst ergab laut Wörmann, dass Hämatologen und Onkologen sehr zurückhaltend seien, Methadon als Krebsmedikament zu verordnen. Die Konsequenz: Patienten nehmen in der Hoffnung auf eine positive Wirkung das Medikament – teils ohne ihren behandelnden Arzt zu informieren.

Auch Franziska Schröder (Name geändert) hat sich im vergangenen Jahr aus Verzweiflung in Eigeninitiative dazu entschieden. Verschrieben hat es letztlich ihr Hausarzt, der schon längere Zeit mit Methadon behandelt. Schröders Onkologe ist über die Einnahme nicht informiert. Die Patientin würde sich wieder für diesen Weg entscheiden.

Jedoch wird vor solchen Alleingängen auch gewarnt. Denn wie andere Opioide hat Methadon Nebenwirkungen – Verstopfung etwa und Benommenheit. Auch Atemlähmung wird angeführt. Ein Grund für Fachgesellschaften und das Deutsche Krebsforschungszentrum, sich aktuell gegen den Einsatz aussprechen.

Die Ulmer Chemikerin Claudia Friesen kann das nicht nachvollziehen. „Aus der Schmerztherapie gibt es klinische Studien, ab welcher Dosierung was beachtet werden muss“, so Friesen. „Da sind die Patienten, mit denen ich in Kontakt stehe, weit unter der kritischen Menge.“ Wie bei allem mache die Dosis das Gift. „Außerdem ist Methadon anders als Morphium weder leber- noch nierenschädigend.“ Friesen stellte in patienten-abgeleiteten Tiermodellen fest, dass Methadon die Wirkung einer Chemotherapie verstärken kann, und machte diese Erkenntnis öffentlich. Laut Wick und Wörmann schürte dies falsche Hoffnungen und die Angst bei Krebspatienten, etwas zu verpassen. Ethisch korrekt wäre es gewesen, zu warten, bis die Wirksamkeit durch klinische Studien bewiesen wurde.

Aktuell sind mehrere solcher Forschungsprojekte geplant: Ein Antrag von Wick ist derzeit in Revision und wird überarbeitet. „Ich bin im Moment guter Dinge, dass wir eine Förderung unserer geplanten klinischen Studie mit Hirntumor-Patienten bekommen“, so Wick. In Ulm, wo Friesen forscht, steht ein Antrag für eine Studie zu Darmtumoren und Methadon kurz vor der Abgabe. Auch eine Studie zu Bauchspeicheldrüsenkrebs sei angedacht, so Friesen. Zudem sind seit Beginn des Jahres sogenannte S-3-Leitlinien in Arbeit, an denen sich Ärzte bei der Krebstherapie orientieren können – auch mit Blick auf den Einsatz von Methadon und Cannabis.

„Wir haben einen ungedeckten Bedarf“, fasst Wörmann die Situation zusammen. „Denn auch wenn sich viel in der Krebsmedizin tut, haben wir weiter viele Patienten, die an Krebs sterben.“ Sein Rat geht daher an die Ärzte, das Bedürfnis der Betroffenen, irgendetwas zu tun, sehr ernst zu nehmen: „Man muss viel Zeit in Gespräche investieren.“ So fänden sich immer Punkte und Möglichkeiten Patienten zu unterstützen. „Das verlängert das Leben vielleicht nicht, aber es macht den Rest des Lebens für Krebskranke lebenswerter.“