Wedel. Die Wedeler Psychologin und Buchautorin Désirée Linde erklärt im Abendblatt-Interview, warum Senioren radikal umdenken sollten

In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Lebensbalance im Alter – Das eigene Altern positiv beeinflussen“ wendet sich die Wedeler Psychologin Désirée Linde an künftige und aktive Ruheständler. Sie erklärt, wie ein glückliches Leben im Alter gelingen kann und warum viele Ansichten über das letzte Lebensdrittel falsch sind.

Frau Linde, in Ihrem Buch zitieren Sie das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Ihrer Auffassung nach gilt es im Alter ganz besonders. Warum?

Désirée Linde: Für ein glückliches Leben im Alter helfen uns in erster Linie ein positives Selbstbild und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Beides haben wir selbst in der Hand. Wir müssen davon wegkommen, uns als Opfer unserer Lebensumstände zu betrachten. Eine solche Sichtweise ist immer schön einfach: Alle anderen trifft die Schuld für meine Situation, nur mich trifft keine. Wer so denkt, hat sich selbst aufgegeben. Wir müssen Verantwortung für uns selbst übernehmen und uns von der Opferrolle emanzipieren. Dafür müssen wir uns auch über Vorurteile und Erwartungen hinwegsetzen.

Welche Vorurteile meinen Sie?

In der Gesellschaft ist häufig noch die negative Haltung verbreitet, dass im Alter die Kräfte nachlassen und alles bergab geht. Das stimmt aber nicht. Richtig ist, dass das Kurzzeitgedächtnis und die Reaktionsfähigkeit langsamer werden. Aber das Langzeitgedächtnis wird zum Beispiel besser. Auch haben alte Menschen mehr Erfahrung, weil sie viel mehr gesehen haben im Leben als junge Leute.

Was können Senioren konkret tun, um ein glückliches Leben zu führen?

Als erstes müssen wir uns der eigenen Stärken bewusst werden. Die meisten Menschen können eine endlose Liste ihrer Schwächen aufzählen, aber bei den Stärken kommen sie ins Stocken. Wir sollten also ganz konkret darüber nachdenken, was wir an uns gut finden. Was ist positiv an unserem Körper? Welche guten Eigenschaften haben wir? Gleichzeitig sollten wir ergründen, woher negative Einstellungen kommen. Häufig stammen sie aus der Kindheit, in der uns negative Dinge gesagt wurden, die wir stillschweigend in unser Selbstbild übernommen haben. Diese negativen Einstellungen müssen wir hinterfragen und ihnen positive entgegensetzen.

Zum Beispiel?

Die negative Botschaft „Das kann nur mir passieren.“ können wir ersetzen durch: „Das kann jedem mal passieren.“ Statt „Mach alles richtig“ können wir uns lieber sagen: „Ich muss nicht perfekt sein.“

Hilft nicht in erster Linie, sich Hobbys oder eine Beschäftigung zu suchen?

Ja. Das positive Selbstbild und der bewusstere Umgang mit uns selbst ist nur die Grundlage, auf der wir die verschiedenen Bereiche unseres Lebens gestalten können. Wichtigster Bereich ist meines Erachtens die körperliche und geistige Fitness, für deren Erhalt wir im Alter mehr Zeit aufwenden müssen. Im Idealfall suchen wir uns eine Sportart, die wir gerne machen, denn nur dann bleiben wir dabei. Kleine Bewegungsübungen können wir sogar vor dem Fernseher machen. Solange der Gleichgewichtssinn noch in Ordnung ist, kann auch Radfahren bis ins hohe Alter betrieben werden.

Dann gibt es das Feld Arbeit und Beschäftigung, das jede Menge Möglichkeiten bietet, vom Nachholen des Hochschulstudiums über ein Ehrenamt bis zum Lernen eines Musikinstruments. Man kann auch mit 60 noch Klavierspielen oder eine Fremdsprache lernen. Schließlich haben wir den Bereich der Beziehungen. Kontakte müssen gepflegt werden,damit man nicht einsam wird.

Viele alte Menschen leiden unter Einsamkeit, weil sie keine Familie und keine Freunde mehr haben. Gibt es einen Ausweg?

Es gilt, rechtzeitig vorzusorgen. Wenn Familie und Freunde schon gestorben sind, dann ist es eigentlich schon zu spät. Aber wir können uns schon in jungen Jahren gesellschaftlichen Anschluss suchen und neben dem eigenen Partner weitere Freunde finden. Es gibt so viele Möglichkeiten, um Kontakte zu knüpfen: Gruppenreisen, Ehrenamt, Altennachmittag. Wer keine Enkel hat, kann sich als Leih-Omi oder -Opi engagieren. Das Schlimmste wäre, zu Hause zu sitzen und zu warten, bis der Märchenprinz oder die -prinzessin an der Tür klingeln. Das tun sie nämlich garantiert nicht.

Wann sollte man anfangen, sich Gedanken über ein glückliches Leben im Alter zu machen?

Man kann nicht früh genug damit beginnen. Auch junge Leute tragen bereits negative Vorstellungen über sich selbst mit sich herum und können an ihrem Selbstbild arbeiten.

Mit dem Eintritt ins Rentenalter ist es also schon zu spät?

Es ist nie zu spät. Wir sind lernfähig, solange wir leben. Das ist das Schöne.

Sollten sich Senioren auch auf den Tod vorbereiten?

Wir kommen nicht daran vorbei. Die eigene Vorstellung vom Tod und wie es danach weitergehen könnte, ist natürlich eine sehr individuelle Sache. Vorbereiten kann man sich aber in jedem Falle, indem man seine Hinterlassenschaften ordnet. Dazu gehören eine Patientenverfügung, ein Testament und eine Vollmacht. Das erleichtert Hinterbliebenen die Situation sehr.

Sie empfehlen ja letztlich ein radikales Umdenken. Ist das im Alter, wo viele Einstellungen schon sehr festgefahren sind, überhaupt noch möglich?

Das ist immer eine Frage des Willens. Wer will, kann sich auch mit 60 Jahren noch verändern. Er muss nur den Mut aufbringen, sich über gesellschaftliche Vorstellungen hinwegzusetzen. Ein gutes Beispiel ist für mich Wolfgang Schäuble. Er hätte sich nach dem Attentat im Jahr 1990 zur Ruhe setzen und sein Leben lang jammern können, dass er unschuldig im Rollstuhl sitzt. Stattdessen hat er Verantwortung für seine Situation übernommen. Er hatte sich vorgenommen, eine politische Karriere zu machen, und davon hat er sich durch nichts abbringen lassen.

Frau Linde, wie alt sind Sie und rechnen Sie sich selbst auch schon zu den älteren Menschen?

Ich bin 70 und rechne mich selbstverständlich zu den älteren Menschen. Auch ich habe ein arthrotisches Knie, gehe aber zur Krankengymnastik.

Was ist Ihnen in Ihrem Leben wichtig?

Meine Privatpraxis als Psychologin. Es macht mir großen Spaß, anderen Menschenzum Beispiel in Krisen zu helfen. Außerdem mache ich immer noch Ballett. Wegen des Knies lasse ich die großen Sprünge weg, das habe ich akzeptiert. Aber nur weil es nicht mehr so geht wie im Alter von 35, muss ich ja nicht komplett auf mein Hobby verzichten. In meiner Ballettklasse glaubt mir übrigens keiner, wie alt ich bin.