Berlin.

Günther S. (Name geändert) hat zunehmend den Eindruck, dass ihm die Luft wegbleibt. Der Brustkorb schmerzt, ein Gefühl von Enge macht sich dort breit. „Sie haben ein Mesotheliom“, teilte der Hausarzt dem 75-Jährigen mit – eine erschreckende Diagnose mit einer langen Geschichte. Denn die bösartige Wucherung in der dünnen Zellschicht, die Lunge und Rippen überzieht (Mesothel), ist eine typische Folge, wenn man mit Asbest gearbeitet hat.

Das tat Günther S. als junger Mann auf Baustellen in aller Welt, weil sich ihm auf diese Weise die Gelegenheit zu reisen bot. Die krebserzeugende Wirkung von Asbest kannte er damals nicht – und jetzt hat er noch etwas Glück im Unglück. Im Gegensatz zu vielen der früheren Kollegen besitzt er noch sein Arbeitszeugnis. Darauf steht, dass er mit dem gefährlichen Stoff in Berührung kam. Das hat S. geholfen, die Erkrankung, die ihn in der Rente ereilt hat, als Berufskrankheit anerkannt zu bekommen. Die Behandlungskosten werden jetzt von der Berufsgenossenschaft getragen. Geheilt werden kann er aber wahrscheinlich nicht mehr.

Ein neues Arbeitsprogramm in Europa soll Wissen vermitteln

Wie viele Menschen davon betroffen sind, nennt der „Unfallverhütungsbericht Arbeit 2016“, erstellt vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Er verzeichnet 2576 Fälle von tödlich verlaufenden Berufskrankheiten, 873 davon waren (33,9 Prozent) Bauch- und Rippenfellkrebs (Mesotheliom), 620 Lungen- und Kehlkopfkrebs (24,1 Prozent), die durch Asbest verursacht wurden. Zwei Drittel der Todesfälle infolge von Berufskrankheiten gehen auf den Umgang mit der giftigen Faser zurück. Außerdem verzeichneten die Statistiker 115 Fälle (4,5 Prozent) von Blutkrebs durch Benzol.

„Das bedeutet 1608 Fälle von Krebserkrankungen unter diesen tödlich verlaufenden Berufskrankheiten“, sagt Michael Au, Gefahrstoffreferent im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration. Gemeinsam mit Kollegen der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz entwickelt er Kampagnen zum Kampf gegen den Krebs. Ein EU-weites Arbeitsprogramm ist gerade gestartet.

In Deutschland überprüfen Aufsichtsbehörden nach dem Startimpuls aus Hessen in vielen Bundesländern – etwa in Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Schleswig-Holstein, Thüringen und Nordrhein-Westfalen – gezielt Arbeitsplätze im Handwerk, in Gewerbebetrieben und in der Industrie, wo krebserzeugende Gefahrstoffe eingesetzt werden. Die Aktivitäten haben ein gemeinsames Ziel: ein Bewusstsein für den richtigen Umgang mit krebserzeugenden Stoffen zu erzeugen, diese möglichst durch ungefährlichere zu ersetzen, wirksame Schutzmaßnahmen umzusetzen und Informationen zu guten Praktiken weiterzugeben.

Die Zentrale Expositionsdatenbank ist ein dazu passendes Angebot der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung an Unternehmen. Es soll dabei helfen, Beschäftigte vor krebserzeugenden Stoffen zu schützen. Digital können Unternehmer ein Verzeichnis führen und nachweisen, wo, wann und wie lange ihre Beschäftigten mit Gefahrstoffen umgegangen sind. Dazu zählt etwa der Quarzstaub, der an vielen Baustellen in der Luft liegt. Oder Asbestfasern, die immer noch eingeatmet werden – „eine Gefahr, die viele jüngere Arbeiter nicht kennen, denn die Herstellung und Verwendung ist ja seit 1993 in Deutschland verboten“, sagt Michael Au.

Asbest taucht indes wieder auf, wenn Häuser aus den 1950er- bis 1970er-Jahren saniert oder renoviert werden – auch an unerwarteten Stellen und in Bauprodukten wie in asbesthaltigen Spachtelmassen oder Putzen. In Großbritannien haben Arbeitsschützer den Berufskrebs gezielt in den Fokus genommen. Entwickelt wurde zum Beispiel zur Prävention vor Asbest auf Baustellen eine App als schnelle Informationsquelle.

Solche Überlegungen kommen für Günther S. zu spät. Ihm und anderen, die im Laufe ihres Berufslebens mit Gefahrstoffen wie Asbest in Berührung kamen, soll durch die sogenannte Nachgehende Vorsorge besser geholfen werden: „Wir müssen möglichst früh feststellen, ob sich als Folge des Umgangs mit krebserzeugenden Substanzen beispielsweise ein Tumor entwickelt. Wenn dieser zeitig entdeckt wird, kann er oft besser behandelt werden“, sagt Matthias Kluckert, Vorsitzender des Ausschusses Arbeitsmedizin der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Das bedeutet: regelmäßige spezielle Vorsorgeuntersuchungen.

„Die Beratungen und Untersuchungen der Betroffenen werden von unterschiedlichen Organisationsdiensten der Unfallversicherungsträger in die Wege geleitet und jetzt neu über das Portal DGUV Vorsorge koordiniert. So wollen wir die Beschäftigten auch dann im Blick behalten, wenn sie mehrfach den Arbeitgeber gewechselt haben“, erklärt Thorsten Wiethege vom Institut für Prävention und Arbeitsmedizin. Dieses Verfahren entlässt die Menschen jedoch nicht aus der Verantwortung für ihre Gesundheit. Wiethege sagt: „Wenn ein Lungentumor auftritt, denken Ärzte oft nicht als Erstes daran, dass der Patient mit Asbest gearbeitet haben könnte. Hier hilft es, wenn dieser das auch selbst im Sinn hat.“