Swjosdny Gorodok.

Im Sternenstädtchen bei Moskau könnte Alexander Gerst, der nächste Deutsche im All, sterben. Auch an diesem Vormittag steht dem Astronauten ein Kampf ums Überleben bevor. Nicht wirklich – es ist eine Trainingseinheit im Simulator einer Sojus-Raumkapsel im berühmten Kosmonautentrainingszentrum vor den Toren der russischen Hauptstadt.

„Wir trainieren sehr hart an diesem Fahrzeug“, sagt Gerst. „Manchmal lassen die Trainer zehn bis 15 Probleme gleichzeitig auf uns einprasseln, während auf einem echten Flug normalerweise gar nichts passiert.“ Selten enden diese Übungen für die Crew „tödlich“. Dafür muss das Team an seine Grenzen gehen. „Es gibt immer wieder Tage, wo man aus dem Trainer herauskommt, und man ist schweißnass gebadet“, erzählt Gerst. Im weißen Sokol-Raumanzug gleitet „Astro-Alex“ – sein zum Spitzname gewordener Twitter-Name – durch die Luke in den Simulator.

40 Jahre nach dem ersten Raumflug eines Deutschen, des DDR-Kosmonauten Sigmund Jähn im August 1978, bereitet sich der 41-jährige Gerst auf seine zweite Mission im All vor. Als der Geophysiker aus dem baden-württembergischen Künzelsau 2014 zum ersten Mal die Erde verließ, war er der elfte deutsche Raumfahrer und der dritte auf der Internationalen Raumstation (ISS).

Den Trainingsort umweht der Geist der Geschichte

Gemeinsam mit dem Russen Sergej Prokopjew und der US-Amerikanerin Serena Auñón-Chancellor startet Gerst voraussichtlich Anfang Juni für gut fünf Monate mit einer Sojus-Rakete vom russischen Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan zur ISS. Dabei wird dem Astronauten der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) eine besondere Ehre zuteil: Im zweiten Teil seiner Mission „Horizons“ (Horizonte) wird er für einige Monate als erster Deutscher Kommandant der ISS.

Das bedeutet für Gerst nicht, das Team herumzuscheuchen. Natürlich sei er es, der im Notfall die Entscheidung treffen müsse. „Aber die meiste Zeit ist es meine Rolle, den Kollegen zu helfen, sicherzustellen, dass sie haben, was sie brauchen“, sagt Gerst. Trainiert zu werden von einer renommierten Raumfahrtagentur wie Roskosmos, eine Sojus-Kapsel zu fliegen und von derselben Plattform zu starten wie Juri Gagarin, der erste Mensch im All: Das macht ihn stolz. „Das ist ein Riesenkompliment, dass die mich ans Steuer lassen und auch zur Not alleine fliegen lassen.“

Der Ort, an dem Gerst in den vergangenen Jahren viel Zeit verbracht hat, um sich auf seine Missionen „Blue Dot“ (2014) und „Horizons“ vorzubereiten, umweht der Geist der Geschichte. Schon der sowjetische Raumfahrtpionier Gagarin hatte hier für seinen legendären Flug von 1961 geübt. Heute trägt das Trainingszentrum seinen Namen. Generationen von Kosmonauten und westlichen Astronauten wurden seit den 1960er-Jahren auf dem Gelände im Sternenstädtchen (Swjosdny Gorodok) ausgebildet.

Vieles dürfte hier auch schon vor Jahrzehnten so ausgesehen haben wie heute. Die Trainingsanlagen befinden sich in großen Ziegelbauten. Alte Flugtechnik ziert so manchen Platz. Ansonsten wirkt die Anlage wie ein typisch russisches Verwaltungsareal. Bis heute ist das Sternenstädtchen rund 40 Kilometer nordöstlich von Moskau ein streng abgeriegelter Ort. Eine Mauer, von außen verziert mit Raumfahrtfolklore in Graffiti, umringt das gut drei Quadratkilometer große Gelände.

Die alte Raumfahrerstadt ist ein Zeugnis der sowjetischen Idee, alle Menschen beruflich und privat an einem Ort zu versammeln, die an einem Projekt mitarbeiten: Monostädte. Rund 5500 Menschen leben nach offiziellen Angaben noch im Sternenstädtchen, vor allem Personal aus dem Trainingszen­trum. „Auch ehemalige Kosmonauten wohnen hier noch“, sagt Dmitri Schukow, der hünenhafte Sprecher des Zen­trums, „rund 1600 Menschen arbeiten hier.“ Auf dem Weg von einer Trainingseinheit zur nächsten knirscht frischer Schnee unter den Sohlen. Die Gebäude liegen in einem Kiefern- und Birkenwäldchen. Die Luft ist besser als im verkehrsgeplagten Moskau.

Alexander Jufkin ist der Herr der Zentrifugen. Stolz präsentiert er das Modell CF-7 – eine Kabine an einem sieben Meter langen Arm aus Stahl. „Alles ist simpel und zuverlässig“, sagt der Leiter dieser Trainingseinheit, der sich auch schon Gerst unterziehen musste. Die Anlage ist von 1973. Ihr rustikales Gestänge wirkt alt. Aber die Technik sei auf dem neuesten Stand, sagt Jufkin. Der Sessel mit weißem Polster sieht gemütlich aus. Er muss aber auch einiges abfedern. Wenn sich der Rotor in Bewegung setzt, kann er das 20-fache der Erdbeschleunigung (g) simulieren. „Mit den Kosmonauten trainieren wir aber nur bis maximal acht g“, sagt Jufkin. Ein normales Passagierflugzeug erreicht Werte von etwa 1,2 g.

Die Kabine der Zentrifuge ist voll mit Hightech, um die Gesundheitswerte der Passagiere zu überwachen. Nur solange der Insasse einen Sicherheitsknopf gedrückt hält, dreht sich das Gerät in einem Affenzahn. Das Training ist wichtig, um die Raumfahrer auf den Druck vorzubereiten, der bei Start und Landung auf ihrem Körper lastet.

Für Gerst und seine Kollegen steht der Flug mit der russischen Kapsel vom Typ Sojus-MS auf dem Plan. „Um dieses Raumschiff steuern zu können, muss man ein Jahr Theorie über sich ergehen lassen“, sagt Jufkin. Wladimir Ossokin, Leiter des Sojus-Trainings, ist zufrieden mit Gersts Entwicklung: „Natürlich ist er bereit für den Flug.“ Gerst wird zwar auf der ISS Kommandant sein, auf dem Flug in der Sojus-Kapsel aber wird er Copilot sein. Das Sagen hat sein russischer Kollege. „Gerst muss in der Lage sein, das Raumschiff von Hand zu steuern und an die Raumstation anzudocken“, sagt Ossokin.

„Heute hatten wir zwölf Dinge, die kaputt gegangen sind“

Bei der Einheit vom Vormittag wurde eine Landung simuliert. „Da werfen einem die Instruktoren immer verschiedene Steine in den Weg“, erzählt Gerst später. Seinen Raumanzug hat er gegen einen blauen Overall mit Deutschlandfahne auf dem Oberarm getauscht. „Heute hatten wir zwölf Dinge, die kaputt gegangen sind.“ Ein Triebwerk und ein Funkgerät seien ausgefallen, es habe ein Leck an Bord gegeben. „Einiges wäre auch kritisch gewesen. Wir haben es trotzdem geschafft, nominell (also am vorgesehenen Ort) zu landen“, sagt Gerst. Es sei immer das Ziel, eine Notlandung zu vermeiden.

Für die kommenden Monate bis zum Start stünden Notfalltraining und Vorbereitungen für wissenschaftliche Experimente auf dem Programm. Gersts eng getakteten Stundenplan im All sollen rund 80 Experimente füllen. Die Planung läuft noch.