Berlin.

Früher Abend, Anfang Januar: Lässig trabt ein Tier mit rotem Pelz und buschigem Schwanz die Straße zum Berliner Gendarmenmarkt entlang, ausgerechnet die Jägerstraße. Vorbei an Shoppingmalls, Autos, Passanten. Im Schein einer Straßenlaterne stoppt der Vierbeiner kurz und schaut sich um. Menschen zeigen auf ihn, stoßen erfreute Laute aus und fingern nach ihren Smartphones. Er ist gern gesehen: der Stadtfuchs. Zwar gibt es ihn mittlerweile überall, doch wer das Raubtier aus nächster Nähe sieht, hat kurz das Gefühl, ein Stück Abenteuer im Großstadteinerlei zu erleben.

In der Stadt ist der Fuchs eher Sammler als Jäger

Füchse mitten in der Stadt? Alltag. Füchse sind unter uns, nicht bloß die Schlaufüchse, und die Populationen in Städten werden größer. Zu den beliebten Großstadtrevieren des Wildtieres zählen die in Berlin-Brandenburg ebenso wie die in Bayern. Das Stadtgebiet Hamburg ist nach Schätzungen des Naturschutzbundes (Nabu) zu 60 Prozent „durchfuchst“. Optimale Bedingungen für den Fuchsbau finden Rotfüchse – lateinischer Name: Vulpes vulpes – dort, wo die Urbanität viele Grünflächen aufweist, in Parks, Friedhöfen, alten Bahngeländen, Uferböschungen, Wäldchen.

Die Wohngebiete sind gefundenes Fressen für den Wildhund. „In der Stadt ist er eher Sammler als Jäger“, sagt Nabu-Wildtierökologe Sebastian Kolberg. Als anspruchsloser Opportunist jage der Stadtfuchs nur noch selten Mäuse und Kaninchen, er macht es sich leicht: „Ein großer Teil seiner Nahrung besteht aus essbaren Abfällen“, sagt Kolberg. So klettert er in Mülltonnen und macht sich über Komposthaufen in den Gärten her. Wenn ein Burgerladen in seinem Revier ist, frisst er Bulettenreste. Gibt es viele Hunde und Katzen in der Gegend, schlägt er sich den Magen mit Hunde- und Katzenfutter voll.

Vor gut 60 Jahren wurde der erste Fuchs in einer Stadt gesichtet – in London. Die britische Millionenmetropole fühlt sich von mittlerweile gut 10.000 Füchsen überrannt, wie es in Zeitungsberichten heißt. Die „nachtaktiven, urbanen Terroristen“ – so beschrieb die britische Zeitung „The Guardian“ die Tiere kürzlich – begehen demnach „brutale Angriffe“. Beispiele: Im vergangenen Jahr verletzte ein Fuchs einen Chihuahua in einem Garten schwer, in einem Themenpark im Südwesten Londons starben acht Humboldt-Pinguine durch einen Fuchsangriff. 2013 soll eines der Tiere einem Kleinkind den Finger abgebissen haben. Naturschützer halten die Berichte für lancierte Angstmacherei. Seit die Fuchsjagd in Großbritannien verboten wurde, bemühe sich die Jägerlobby um eine Abschussfreigabe, argumentieren sie.

Auch Nabu-Experte Kolberg hält die Sorge um den Stadtfuchs für unbegründet: „Wir können mit Füchsen in friedlicher Koexistenz leben – wenn wir ihnen in respektvoller Distanz begegnen und nicht anfangen, sie wie unsere Haustiere zu behandeln, sie füttern oder gar anfassen wollen.“ Probleme könne das sieben bis neun Kilo schwere Raubtier aber in ländlichen Gebieten bereiten, wo es Hühner und Gänse reißt. Auch Gartenbesitzer, die Kaninchen im Freien halten, sehen im Fuchs eher den Feind in ihrem Beet.

Unwahrscheinlich ist, sich mit einem gefährlichen Krankheitserreger wie dem Fuchsbandwurm zu infizieren. Beim zuständigen Robert-Koch-Institut (RKI) wurden für das Jahr 2016 insgesamt 37 Fälle der sogenannten alveolären Echinokokkose gemeldet – elf davon in Baden-Württemberg, 14 in Bayern. Im vergangenen Jahr waren es bis Oktober 19 Neuinfektionen. Betroffen sei eher die Landbevölkerung, heißt es beim RKI. Demnach nimmt der Mensch die Wurmeier durch kontaminierte Hände auf, über Endwirte wie Hund oder Katze, durch Erde oder Nahrungsmittel wie Waldbeeren und Pilze. Die RKI-Experten raten dazu, sowohl Hände als auch Gemüse und Fallobst in entsprechenden Gebieten gründlich zu waschen – auch unabhängig vom Fuchsbandwurm.

Tollwut ist in Deutschland sowieso kein Thema mehr (Ausnahme: Fledermaustollwut), nachdem man das Virus, was einen Großteil der Füchse tötete, jahrelang mit Impfködern bekämpfte. Seitdem sei der Fuchsbestand auf das Dreifache gestiegen, wie der Deutsche Jagdverband schätzt.

Fuchsfreunde wie Sophia Kimmig freut das. Die Biologin am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) leitet das 2015 ins Leben gerufene Projekt „Füchse in der Stadt“. Am Beispiel der Berliner Stadtfüchse untersucht ihr Team deren „Verstädterung“: Was frisst der urbane Fuchs, an was erkrankt er? Welche Wege nutzt er? Wie geht er mit städtebaulichen Veränderungen um? Wie paart er sich und zieht seine Jungen groß? Ein weiterer Schwerpunkt: Was die Stadtbevölkerung vom wilden Einwanderer hält. Eine bundesweite Befragung des IZW ergab ein überwiegend positives Verhältnis der Menschen zu „ihren“ Stadtfüchsen. Mehr noch: „Viele haben eine emotionale Beziehung zu ihnen aufgebaut und schützen die, die in ihrer Nähe leben“, sagt Fuchsforscherin Kimmig.

Listig, neugierig, flexibel – so wurde Reineke Fuchs bereits in der Literatur des europäischen Mittelalters beschrieben. Kimmig: „Die Menschen sind fasziniert vom Fuchs, weil er wie sie ein Überlebenskünstler ist und mit allen Bedingungen klarkommt.“ Der Fuchsfanatismus geht sogar bis unter die Haut: In deutschen Tattoo-Studios rangiert das Motiv Fuchs schon seit Längerem ganz oben. Biologin Kimmig schwärmt nun davon, dass der Fuchs eine Art Botschafterrolle übernehmen könne – um Akzeptanz zu schaffen für all die anderen Wildtiere, die es in die Städte zieht.

Auch bei Füchsen herrscht in der Großstadt Wohnungsnot

In der Hauptstadt lässt sich gut erkennen, wie anpassungsfähig die Rotfüchse sind. Beobachter berichten von alleinerziehenden Fuchsmüttern oder -vätern. Oder Jungfüchsen, die bei der Aufzucht des Folgewurfs helfen, statt nach einem Jahr abzuwandern. Oder wie Großstadtfüchse in verwaisten Kellerräumen, unter Baucontainern oder in Kleingärten heimisch werden – weil auch unter ihnen Wohnungsnot herrscht. „Wir haben schon einen Fuchs beobachtet, der in einem Sandkasten versucht hat zu bauen. Er ist dann aber selbstständig von seinem Plan abgerückt“, berichtet Nabu-Experte Kolberg.

Einige Exemplare der eigentlich nachtaktiven Tiere lassen sich bereits am Tag auf der Straße blicken. Probleme bereitet dem Wildtier aber der dichte Stadtverkehr: Der Stadtfuchs wird im Schnitt nur eineinhalb Jahre alt, weil er allzu oft unter die Räder kommt. Doch immer mehr Jungtiere lernen, dass sie die Straße erst dann überqueren sollten, wenn kein Auto kommt.