Berlin. Zahl der Erdenbewohner ist auf fast 7,5 Milliarden gestiegen. Chefin der Stiftung Weltbevölkerung, Renate Bähr, warnt vor Armutsspirale

Jede Sekunde steigt die Zahl der Erdenbewohner um 2,6, jede Minute um 157, jeden Tag um 226.184. Laut aktuellen Zahlen der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) leben zum Jahresanfang gut 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde, 83 Millionen mehr als ein Jahr zuvor. Bevölkerungswissenschaftler prognostizieren einen weiteren Anstieg – auf 9,8 Milliarden Menschen 2050 und 11,2 Milliarden 2100.

Frau Bähr, die Zahlen, die Ihre Stiftung jetzt veröffentlicht hat, klingen fast apokalyptisch.

Renate Bähr: Das sind die Fakten. Tatsächlich ist die Weltbevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen. Sie können auf unserer Website mit Ihrem Geburtsdatum berechnen, der wievielte Mensch Sie waren. Ich liege da bei drei Milliarden. Heute gibt es über 7,5 Milliarden Menschen auf der Welt. Das sind 150 Prozent mehr. Das ist schon beeindruckend.

Geht das immer so weiter?

Der absolute Zuwachs der Weltbevölkerung hat sich in den vergangenen 20 Jahren bei 83 Millionen eingependelt. Der prozentuale Anstieg geht sogar leicht zurück. Allerdings geht das Bevölkerungswachstum nicht so stark zurück, wie die Vereinten Nationen in der Vergangenheit angenommen haben. Dabei fällt die Bevölkerungsentwicklung in den einzelnen Weltregionen ganz unterschiedlich aus. Am stärksten wächst die Bevölkerung in Afrika. Das ist eine große Herausforderung.

Was heißt das konkret?

In Afrika südlich der Sahara, also bei 49 der 54 afrikanischen Staaten, nimmt das Wachstum im Schnitt um jährlich drei Prozent zu. Nach aktuellen Berechnungen der Vereinten Nationen wird sich die Bevölkerung dort bis 2050 vermutlich auf 2,5 Milliarden Menschen verdoppeln. Noch vor 15 Jahren ist man von einer Zunahme auf lediglich 1,8 Milliarden Menschen ausgegangen. Aber die durchschnittliche Zahl der Kinder, die eine Frau in diesen Ländern zur Welt bringt, ist nicht so stark gesunken wie angenommen.

Woran liegt das?

Man muss sich nur mal die Bevölkerungsstruktur in den Ländern Afrikas südlich der Sahara anschauen: Im Schnitt sind 40 bis 50 Prozent der dort lebenden Menschen jünger als 15 Jahre, 70 bis 80 Prozent jünger als 30. Die Frauen unter ihnen sind also alle im gebärfähigen Alter. Viele bekommen schon als Teenager ihr erstes Kind. Das rasche Wachstum in Entwicklungsländern geht unter anderem darauf zurück, dass gut zwei von fünf Schwangerschaften ungewollt sind. Bei Frauen zwischen 15 und 19 Jahren ist sogar jede zweite Schwangerschaft ungewollt.

Und wie lässt sich das ändern?

Es muss Paaren und ganz besonders jungen Frauen ermöglicht werden, selbst darüber zu entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen. Es gibt einen riesigen Bedarf an Aufklärung über Verhütung, Frauenrechte und Familienplanung. Diese Themen sind in den betreffenden Ländern aber noch häufig ein Tabu. Die vorherrschenden traditionellen Strukturen aufzubrechen, erfordert ein langfristiges Umdenken in den Familien und der Gesellschaft: Man muss nicht so früh wie möglich schwanger werden, es reicht auch, mit 23 oder 25 erstmals Kinder zu bekommen. Besonders gut eignen sich Jugendberater, um Gleichaltrige über Sexualität und Verhütung zu informieren.

Ihre Stiftung unterhält in vielen afrikanischen Ländern ein großes Netzwerk sogenannter Jugendklubs, in denen über Sexualität, HIV und Aids und ungewollte Schwangerschaften informiert wird. Greifen die Projekte nicht?

Doch, und wir erzielen mit unseren Projekten auch sehr gute Ergebnisse. Aber es gibt in Afrika insgesamt einfach viel zu wenige Programme zur Sexualaufklärung. Es fehlt schon allein an Infrastruktur, um die Jugendlichen zu erreichen. Afrika ist ein überwiegend ländlicher Kontinent. Äthiopien zum Beispiel besteht zu 90 Prozent aus Landschaft – man fährt stundenlang auf holprigen Wegen, um von einem Dorf das nächste Gesundheitszentrum zu erreichen. Wie soll man so Zugang zu Verhütungsmitteln wie der Antibabypille oder Drei­monatsspritze schaffen? Diese Methoden wirken ja auch nur, wenn man sie regelmäßig nimmt. Um Jugendliche in abgelegenen Regionen zu erreichen, setzen wir deshalb in einigen unserer Projektländer ein Aufklärungsmobil, den sogenannten Youth Truck, ein.

US-Präsident Donald Trump hatte angekündigt, die Unterstützung von freiwilliger Familienplanung streichen zu wollen. Wie sehr betrifft das Ihre Arbeit?

Es betrifft uns gravierend. Die Entscheidung der US-Regierung hat Auswirkungen auf alle Gesundheitsprogramme, die wir und andere Organisationen in den Entwicklungsländern unterhalten. Unter Trump gibt es jetzt Knebelverträge: Nur wer unterschreibt, das Thema Abtreibungen aus den Aufklärungsinhalten zu nehmen – also nicht einmal darüber zu informieren –, bekommt noch Geld. Wir und andere Organisationen sehen dies als Erpressung und haben uns darauf nicht eingelassen. Natürlich wollen auch wir Schwangerschaftsabbrüche möglichst vermeiden, aber dafür müssen wir eben umfassend informieren können. Jetzt klafft eine riesige Lücke: Die USA waren der größte Geldgeber und haben für Familienplanungsprogramme zehnmal mehr ausgegeben als Deutschland. Die EU-Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland als eines der wichtigen Geberländer, sind nun in der Pflicht, eine aktivere Rolle zu übernehmen.

Bedeutet das Bevölkerungswachstum in Afrika mehr Flucht und Migration in reichere Industrienationen – etwa Deutschland?

Davon kann man ausgehen. Allein schon, weil die Ressourcen in den Entwicklungsländern knapper werden und daraus weitere Konflikte entstehen können. Bevölkerungswachstum ist ein enormes Hemmnis bei der Armutsbekämpfung. Gerade den jungen Menschen fehlt es an wirtschaftlichen Perspektiven. Viele Kinder kosten auch viel Geld. Aufgrund der hohen Kinderzahl werden allein in Afrika jedes Jahr etwa zwei Millionen mehr Lehrer gebraucht, nur um den Ist-Standard zu halten. Und schon aus humanitären Gründen sollten wir es nicht zulassen, dass in dieser reichen Welt Menschen an leicht vermeidbaren Krankheiten sterben, weil sie sich die einfachsten Medikamente nicht leisten können.

Deutschland gibt viel Geld dafür aus, dass mehr Kinder auf die Welt kommen. In Afrika wird viel Geld ausgegeben, dass weniger Kinder geboren werden. Das klingt absurd.

Das hören wir immer wieder und macht deutlich, wie entscheidend die Bevölkerungsstruktur und -entwicklung in einem Land für Wohlstand und gutes Leben sind. In Afrika gibt es derzeit sehr viele junge und nur wenige ältere Menschen. In Deutschland ist es umgekehrt. Es geht also in beiden Fällen um eine ausgeglichene Bevölkerungsstruktur.