Im Drama „Wonder Wheel“ verneigt sich Altmeister Woody Allen vor seiner Hauptdarstellerin Kate Winslet, die eine Kellnerin auf einem Jahrmarkt spielt

Woody Allen ist, und das muss man erst einmal schaffen, zu einer eigenen Marke geworden. So wie man bei James Bond auf bestimmte Ingredienzien wartet (Wann nennt er seinen Namen? Wie bestellt er seinen Martini?), so hakt man bei einem Allen-Film sofort im Kopf eine Liste von Kriterien ab: Tritt Allen selbst auf, oder führt er nur Regie? Ist es ein komischer oder ein ernster Film? Spielt er in New York oder woanders?

Schon diese Punkte veranschaulichen deutlich, wie breit das Œuvre von Allen angelegt ist. Er lässt sich nicht, wie Bond, genau festlegen. Und doch gibt es etwas, was alles woodyesk macht. Aber so verlässlich Woody Allen auch Jahr für Jahr einen neuen Film macht, die Kraft von früher ist dem inzwischen 82-Jährigen sichtlich abhanden gekommen. Und so hat sich bei ihm in den letzten Jahren eine ganz neue Kategorie eingeschlichen: Ist es ein wehmütiger Film oder nicht?

Checken wir also kurz die Liste ab. Nein, Woody Allen spielt nicht selber mit. Das hat er seit „To Rome With Love“ (2012) nicht mehr getan. Nein, es ist kein ernster Film, richtig komisch ist er aber auch nicht. Und jein, er spielt nicht mitten in New York, aber auch nicht wirklich anderswo. Sondern in Coney Island, dem Bilderbuchstrand vor Brooklyn. Aber ein entschiedenes Ja gibt es doch: Ja, auch dieser Film ist wehmütig.

Spielte der letzte Woody „Café Society“ im Hollywood der 40er-Jahre, so sind wir hier in den 50er-Jahren. Sonne, Strand, Jahrmarkt, all das sind eigentlich Dinge, die nicht recht zu dem Großstadtneurotiker passen. Und wirklich sind sie nur die schillernde Oberfläche, unter der sich Abgründe auftun. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die ihre Träume verloren hat. Ginny (Kate Winslet) wollte mal Schauspielerin werden, nun geht sie einem trostlosen Leben als Kellnerin in einer Bar nach, ihr Gatte ist ein grobschlächtiger Karussellbetreiber, Humpty (James Belushi), mit dem sie auch noch, weil es so billig ist, mitten auf dem Vergnügungspark lebt, direkt über einem Schießstand. Das permanente Knallen von unten gibt den kläglichen Soundtrack zu diesem kläglichen Leben. Ginnys täg­liche kleine Fluchten sind lange Spaziergänge am Strand, wo sie ihren alten Träumen hinterherträumen kann.

Sie wirkt dabei allerdings so verloren, als wolle sie direkt ins Wasser gehen. Und so meint sie denn auch der attraktive Rettungsschwimmer Mickey (Justin Timberlake) retten zu müssen. Eigentlich ist er Student, eigentlich will er Dichter werden, die „Dame in Not“ wird seine Minne. Um die buhlt er, und in seinen Händen blüht die längst verblühte Ginny noch einmal auf. Sonst waren es bei Woody Allen ja eher die alten Herren, die sich in fatal junge Mädchen verliebten. Hier ist es einmal andersherum.

Die Dinge verkomplizieren sich indes, als Ginnys Stieftochter Carolina (Juno Temple) vor ihrem Gangster-Gatten flieht (ein direktes Zitat aus „Café Society“) und bei Humpty untertaucht. Die kleine Wohnung ist viel zu eng für sie alle, die Gangster suchen nach der Geflohenen, und schließlich beginnt Mickey auch etwas mit der deutlich jüngeren, attraktiveren Carolina, was Ginny nicht unentdeckt bleibt. Kurzum: Ein Krisenbad unterm Riesenrad.

„Ich schauspielere“, sagt Ginny einmal, „ich tue nur so, als sei ich Kellnerin.“ Das ist eine der feinsten Pointen, die Allen seiner Figur ins Drehbuch geschrieben hat. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eigentlich auch Woody Allen schauspielert. Er tut nur noch so, als sei er Woody. Seine Standardsituationen spult er einigermaßen routiniert herunter. Seine einst so gerühmten bösen Dialogzeilen, sie plätschern hier eher harmlos herunter. Und während ein Allen-Film früher von einem großartigen Cast lebte, in dem lauter Stars sich die Klinke in die Hand gaben, weil sie alle mal in einem Allen-Film mitspielen wollten, ist dieser Film ganz und gar auf Kate Winslet zugespitzt. Die merkwürdigerweise noch nie mit Allen zusammengearbeitet hat und das hier nach Kräften nachholt. Bei ihr immerhin erweist sich Allen einmal mehr als das, was er auch ist: ein großartiger Frauenregisseur. Unvergessen seine langen, kraftvollen Schaffensphasen mit Diane Keaton und Mia Farrow (auch wenn er auf Letztere wohl nicht mehr gern zurückblickt). Aber auch mit Scarlett Johansson und Emma Stone hatte er kongeniale Künstlerbeziehungen, und Cate Blanchett hat er „Blue Jasmine“ buchstäblich auf den Leib geschrieben, wofür sie einen Oscar erhielt.

Justin Timberlake spricht von seinem Rettungssitz aus direkt in die Kamera

Diesmal also verneigt sich der Altmeister vor Kate Winslet. Und die wird zum eigentlichen Life Guard seines seltsam leblosen Films. Kameramann Vittorio Storaro weiß sie in schönstes, weiches, verklärendes Licht zu setzen, ob in den Strandszenen oder im Neonlicht des Vergnügungsparks. Aber weit und breit ist sonst niemand, der es schauspielerisch mit der Winslet aufnehmen könnte, nicht James Belushi und schon gar nicht der immer noch sehr teeniehafte Justin Timberlake, der hier völlig fehlbesetzt wird – auch wenn er als Erzähler des Films fungiert, der von seinem Rettungshochsitz aus direkt in die Kamera spricht.

Und in der Arbeiterwelt, in der „Wonder Wheel“ spielt, ist Woody Allen bei Weitem nicht so zu Hause wie in den neurotischen Intellektuellenkreisen, in denen der Großteil seiner Filme spielt.

Dem Zuschauer geht es also mehr und mehr wie der Ginny, wenn sie am Strand entlangwandelt. Sehnsüchtig starrt man ins Weite und denkt an die frühen kraftvollen Allen-Filme, während der jetzige nur noch ein schwacher Abglanz ist.

„Wonder Wheel“ USA 2017, 101 Min., ab 12 J.,
R: Woody Allen, D: Kate Winslet, Juno Temple, Justin Timberlake, Jim Belushi, täglich im
Abaton (OmU), Blankeneser, Holi, Passage, Zeise;
www.warnerbros.de/kino/wonder_wheel.html