In der Reihe Türöffner zeigt uns Heike Müller den Tresor in der Bibliothek des Christianeums, der zahlreiche Kostbarkeiten birgt

Genau so stellt man sich einen Platz vor, in dem Schätze lagern: Dicke Betonwände schirmen den weitgehend fensterlosen Raum gegen die Umgebung ab. Wer etwas erkennen möchte, muss erst mal das Licht anschalten. Der Blick von drinnen nach draußen ist nur durch einen schmalen, verglasten Schlitz möglich, umgekehrt kann man beim Durchgucken fast nichts erkennen. Zur Abgeschiedenheit kommt, logischerweise, die fast surreale Stille, die nur durch das gleichförmige Brummen einer Klimaanlage durchbrochen wird. Ansonsten ist es hier so ruhig wie im tiefsten Keller, und dass dieser begehbare Tresor nicht in einer Bank sondern mitten im Herzen eine quirligen Schule liegt, ist kaum vorstellbar.

Rückblick: Anfang des Jahres wurde die neue Bibliothek des Christianeums an der Otto-Ernst-Straße mit großem Rummel wiedereröffnet. Alle 25.000 Bücher waren während der aufwendigen Sanierung des Schulgebäudes ausgelagert worden, etliche konnten bei dieser Gelegenheit gleich restauriert werden.

Schule verfügt über größte deutsche Gymnasialbibliothek

Selbst Menschen, die mit dem altsprachlichen Gymnasium seit vielen Jahren vertraut sind, wussten nichts von dem eindrucksvollen Bücherschatz, der seit ewigen Zeiten in der Schule ruht. Die Bibliothek mit Bänden aus dem 14. bis 18. Jahrhundert ist nach Angaben der Schulbehörde die größte deutsche Gymnasialbibliothek, die noch als Originalsammlung in einer Schule erhalten ist. Offiziell ist die Benutzung, so kann es jeder auf der Homepage der Schule lesen, den Schülern und Lehrern des Christianeums vorbehalten. „Bei berechtigtem Interesse steht der Bestand Dritten nach vorheriger Anmeldung zur Verfügung. Die Ausleihe von Medien ist jedoch ausgeschlossen“, ist unmissverständlich klargestellt.

Bibliothekarin Heike Müller erfüllt die Kundenwünsche vor Ort: Sie pickt die gesuchten Bücher heraus, legt sie den Interessierten vor und sorgt mit Kompetenz und Freundlichkeit dafür, dass die modern gestalteten Räume immer gerne aufgesucht werden. Müller wirbelt so selbstverständlich durch die Schule, als sei sie hier schon seit Jahrzehnten im Einsatz. Dabei hat sie ihren Job erst im vergangenen November angetreten. Schüler und Lehrer kommen gerne zu ihr, auch gelegentliche Besuchergruppen finden bei Müller Zugewandtheit, Sachverstand und ein offenes Ohr.

Doch vor der Tresortür enden die Kundenwünsche normalerweise. Für die Abendblatt-Serie „Türöffner“ macht Heike Müller eine Ausnahme. Wer sich umschaut, versteht die Achtsamkeit, mit der sie vorgeht, sofort. Denn hier lagern die wertvollsten Exponate, die die Sammlung zu bieten hat, insgesamt sind es 2000. Dazu gehören die Handschrift „Il Filostrato“ von Boccacio (1336/40), eine Erstausgabe von Goethes Götz von Berlichingen (1773) und mehrere mit Holzschnitten ausgestattete Bibeln des 16. Jahrhunderts.

Man muss kein Bücherkenner sein um zu wissen: Publikumsverkehr ist Gift für die alten Werke und sollte vermieden werden. Der Tresorraum darf eigentlich gar nicht betreten werden – schon gar nicht ohne die smarte, Bibliothekarin. Auf Wunsch legt Heike Müller Benutzern einzelne Werke aus der Schatzkammer vor, die dann aber nur unter Aufsicht angeguckt werden dürfen.

Müller, die sich vorab extra weiße Handschuhe angezogen hat, zeigt an diesem Tag den Besuchern das Allerheiligste. Anfassen der Bücher und Schriften ist nicht gestattet, Blättern schon mal gar nicht.

Die ersten Eindrücke, die man im Raum sofort sammelt, sind die relativ frische Luft und der angenehme Geruch. Als – wie es in der Fachsprache heißt – „bestandserhaltende Maßnahme“ muss der Raum klimatisiert werden, und die Bücher dürfen keinem direkten Tageslicht ausgesetzt sein. Die Raumtemperatur darf nie 20 Grad Celsius, die Luftfeuchtigkeit nie 50 Prozent überschreiten. Wenn nicht gerade die Beleuchtung angeschaltet ist, herrscht in dem Raum mit den dicken Betonwänden neben ohrenbetäubender Stille auch genau das Zwielicht, das den alten Büchern guttut. Die Bücher in den Metallregalen sind thematisch geordnet und scheinen entsprechend kaum zusammenzupassen. Prachtbände, sehr aufwendig gestaltet und so groß wie Atlanten, reihen sich an eher kleine, unscheinbare. Manche sind in braunes Schutzpapier gewickelt, andere stehen „nackt“ da.

Heike Müller, die lange in einer Spezialbibliothek für Fischereiwesen tätig war, ist seit rund 30 Jahren Bibliothekarin – ein Beruf, den sie „schon immer“ ergreifen wollte. Sie beschäftigt sich in ihrer Freizeit zwar ausgiebig mit Näharbeiten und kocht für ihren Freundeskreis. Aber wenn sie von Zuhause aus Alt-Osdorf zur Arbeit fährt, ist das für die bibliophile Frau letztlich fast so, wie für andere Menschen ein Gang in den Hobbykeller.

Heike Müller schließt die Tür zum Tresor, blinzelt in den schicken Lesesaal und sagt entschlossen: „Hier gehe ich nie mehr weg.“