othmarschen. 57-Jähriger verätzt Schulleiter am Gymnasium Othmarschen und bekommt acht Monate auf Bewährung. Angeklagter spricht von Amnesie

Klartext im Altonaer Amtsgericht: „Ich gehe davon aus, dass Sie das waren, dass Sie es nur nicht wahrhaben wollen“, so Richter Olaf Beier zum Angeklagten Horst S. Beim Urteil bestätigte er dann den ergangenen Strafbefehl: acht Monate Haft auf Bewährung. Außerdem muss S. die Kosten des Verfahrens tragen. Richter Beier und die Staatsanwältin sind sich sicher: Biolehrer Horst S. hat im Januar das Postfach des Othmarscher Schulleiters mit Säure so präpariert, dass dieser ätzende Flüssigkeit an Hände und Wange bekam, seine Hose regelrecht durch­löchert wurde.

Horst S. mag einmal ein anerkannter Lehrer gewesen sein. Nun sitzt der bislang unbescholtene Frühpensionär auf der Anklagebank – ein bleicher, zerstreut und eher ungepflegt wirkender Endfünfziger mit ruinierter Gesundheit und angekratzter Reputation. Ein schwerer Dienstunfall habe ihn lange außer Gefecht gesetzt, bevor dann vor zwei Jahren seine berufliche Wiedereingliederung am Gymnasium Othmarschen begann.

S., zweifacher Doktor, spricht präzise, setzt seine Worte genau. Immer wieder hätte er seit dem Unfall unter „Aussetzern“ gelitten. Auch an die Tat, die ihm nun zur Last gelegt werde, könne er sich nicht erinnern. Nachdem der Richter den rekonstruierten Ablauf vorgelesen hat, stützt S. den Kopf auf, scheint sich mühsam konzentrieren zu müssen. „Ich will nicht bestreiten, dass das so vorgekommen sein könnte“, sinniert er schließlich mit fester Stimme. Wenn jemand durch ihn zu Schaden gekommen sei, tue ihm das leid. Er sei Pazifist, Gewalt liege ihm fern. S. berichtet von diffusen gesundheitlichen Problemen, die ihn nach dem Unfall heimgesucht hätten. Mal konnte er sich in seiner Wohnung nicht zurechtfinden, mal habe er im Unterricht plötzlich gezittert und sich „auf die Toilette geflüchtet“. Was dann im Januar „plötzlich“ geschah, sei ihm nach wie vor unklar.

Doch der ihm zur Last gelegte Säureanschlag war alles andere als ein Einzelfall. Schon länger muss sich Horst S. als das Enfant terrible der Schule geriert haben. Unglaubliche Vorgänge müssen sich vor allem im zweiten Halbjahr 2015 im Fachbereich Biologie des renommierten Gymnasiums abgespielt haben. Atemlose Spannung im Saal, als Richter Beier dazu eine lange Liste verliest. Angelegt hat sie der Fachleiter Biologie, der offenbar das bevorzugte Opfer von Horst S. war. Mehrmals wurden Computer mit stinkenden Flüssigkeiten übergossen und Schlösser beschädigt, auch verschwanden immer wieder Schlüssel und Unterlagen. Ein Ordner des Fachleiters fand sich zerfetzt in der Toilette, einmal wurde sein Kaffee mit Magnesiumsulfat versetzt. Pikant: Für die meisten dieser Aktionen waren Schlüssel der Biologieräume erforderlich, und die hatte nur eine kleine Gruppe, darunter Horst S.

„Wenn Sie das so vorlesen, wird das wohl auch so gewesen sein“, ist alles, was dem Beschuldigten dazu einfällt, allerdings könne er sich an „rein gar nichts“ davon erinnern. S. kratzt sich den dünnen weißen Bart, scheint angestrengt nachzudenken. Wie er das Verhältnis zu diesem Kollegen beschreiben würde, will Richter Beier wissen. Horst S. lässig: „Eigentlich normal, wie überall im Beruf. Man ging sich aus dem Weg.“

Schulleiter Stefan S. war zuletzt ins Visier von Horst S. geraten, vor allem, nachdem er ein Disziplinarverfahren gegen diesen eingeleitet hatte. Der Schulleiter bemüht sich als Zeuge um einen sachlichen Ton, berichtet ruhig und konzentriert. Immer wieder hatte es Beschwerden über Horst S. gegeben, mal von Eltern, mal von Kollegen. Vor allem das „rechtzeitige Beenden des Unterrichts“ sei ständiges Thema gewesen. Stefan S. bestätigt, dass der Umgang mit dem Biolehrer nach dessen Unfall und der Wiedereingliederung schwieriger geworden sei – „noch schwieriger“. Und auch das berichtet Stefan S.: Seit Horst S. nicht mehr an der Schule arbeitet, habe es keinen vergleichbaren Vorfall gegeben.

Im Januar war die Situation dann eskaliert. Nachdem das Postfach des Schulleiters schon einmal mit einer undefinierbaren Flüssigkeit beschmiert worden war, hatte Stefan S. Anzeige erstattet. Nach Absprache mit der Schulbehörde wurde der von der Polizei initiierten Überwachung seines Postfachs zugestimmt. Als der Schulleiter das Fach leeren wollte, verätzte er sich Hände und Wange.

Lange betrachten Richter, Staatsanwältin und Angeklagter die Fotos aus der Videoüberwachung. Sie zeigen überdeutlich, wie sich Horst S. an dem Fach zu schaffen machte, kurz bevor der Schulleiter hineingriff. Einmal mehr beruft sich Horst S. daraufhin auf „Amnesie“. Im Zusammenhang mit besagtem Januartag könne er sich an nichts erinnern, nicht einmal an den Wochentag.

Nachdem Richter Beier immer wieder freundlich auf Horst S. eingeredet hatte, fällt seine abschließende Urteilsbegründung deutlich aus. „Der andere Anschlag auf den Schulleiter, das waren Sie doch auch, wer soll es denn sonst gewesen sein?“, so Beier. Für die viel zitierte Amnesie gebe es keine Anhaltspunkte. Horst S. habe billigend in Kauf genommen, dass mehrere Personen verletzt werden könnten. „Stellen Sie sich mal vor, der Schulleiter oder andere Kollegen hätten sich Säure in die Augen gerieben“, so Beier streng, „nicht auszudenken.“ Planvoll sei Horst S. vorgegangen, man könne sogar von Verschlagenheit sprechen. Horst S. schreibt mittlerweile Fachdidaktik.