Hattingen/Berlin.

Am Tag danach zeigen die Mitarbeiter des Jobcenters von Hattingen Stärke. Alle sind sie zur Arbeit erschienen, der öffentliche Bereich ist wie jeden Dienstag bis zwölf Uhr geöffnet. Nur ein Kollege fehlt: Ein 58-jähriger Sachbearbeiter, der am Montag von einem seiner Klienten mitten im Büro mit einem Messer angegriffen worden war.

Es war eine Attacke aus dem Nichts. Ein arbeitsloser Mann, 37 Jahre alt, hatte das Jobcenter ohne Termin betreten und sich über das Haustelefon bei dem Sachbearbeiter angemeldet. Als der den 37-Jährigen durch eine Sicherheitstür hereinlassen wollte, stach er auf den arglosen Mitarbeiter ein. Die Polizei nahm den Angreifer kurze Zeit später fest. Man habe ihm Leistungen gekürzt, beschwerte er sich.

Der Schock über die erneute Attacke in einem Jobcenter sitzt tief – weit über die Ruhrgebiets-Stadt Hattingen hinaus. Immer wieder rasten Antragsteller aus und verletzen oder töten Mitarbeiter. Zwischen 2012 und 2016 registrierte die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) 1619 Gewalttaten oder Bedrohungen in Verwaltungsbehörden. Die bekannt gewordenen Einzelfälle aus Jobcentern ergeben eine erschreckend lange Liste. 2011 erschoss eine Polizistin eine Frau, die im Jobcenter von Frankfurt randaliert hatte, weil ihr Hartz-IV-Geld nicht bar ausgezahlt wurde.

Die Anlässe sind häufig erschütternd nichtig. 2012 erstach ein Arbeitsloser in Neuss eine 32-jährige Sachbearbeiterin, weil er mit einer Datenschutzerklärung nicht einverstanden war. Eine Studie der DGUV ergab, dass jeder vierte befragte Jobcenter-Beschäftigte schon einmal Opfer eines Übergriffs geworden ist.

Der Mord von Neuss ging bundesweit durch die Medien. „So ein Ereignis löst enorm viel aus“, berichtet Heike Börries von der Arbeitsagentur NRW. Als Reaktion auf die Neusser Tat verschärften die Jobcenter die Sicherheitsvorkehrungen. Vielerorts gibt es mittlerweile Notfallknöpfe, mit denen Sachbearbeiter ihre Kollegen aus den Nachbarbüros zu Hilfe rufen können. In Deeskalationsschulungen lernen sie, wie sie mit aggressiven Klienten umgehen sollten. Manche Jobcenter setzen in besonders gefährdeten Bereichen Sicherheitsdienste ein.

Täglicher Umgang mit Menschen in Existenznot

Wie wirksam die Maßnahmen sind, lässt sich schwer abschätzen. Denn trotz der Vorkehrungen kommt es weiterhin zu Gewalttaten. Vor drei Jahren erstach ein 29-Jähriger in Rothenburg ob der Tauber einen Gutachter, der herausfinden sollte, ob der junge Mann eine normale Arbeit aufnehmen könne. Auch der Angriff von Hattingen zeigt, dass in Jobcentern weiterhin Gefahr von aggressiven Antragstellern ausgeht. Anfang kommenden Jahres will die Bundesagentur zusammen mit der Polizei Broschüren an alle Mitarbeiter verteilen. Titel: „Wie Sie sich vor Übergriffen Ihrer Kunden schützen können“.

Der tägliche Umgang mit Menschen, deren Existenz von ihren Entscheidungen abhängt, ist für die Sachbearbeiter eine Herausforderung. „Es ist schwierig, die richtige Balance zwischen Vorsicht und Zuwendung zu finden“, sagt der Hattinger Jobcenter-Chef Heiner Dürwald. Die „Kunden“, wie er die Hartz-IV-Bezieher nennt, stehen unter großem Druck und haben überdurchschnittlich häufig Alkohol-, Drogen- oder psychische Probleme. Im Herbst 2016 schlug ein 52-Jähriger im hessischen Dietzenbach seinem Sachbearbeiter den Schädel mit einem Hammer ein, als der gerade eine Leistungskürzung in ein Formular eintrug.

Müssen die Mitarbeiter besser geschützt werden? Ein Vorbild könnten Gerichtsgebäude sein – dort müssen Besucher rigorose Einlasskontrollen und Körperscans wie am Flughafen über sich ergehen lassen. Die Arbeitsagentur zeigt sich reserviert. Ihr sei kein Jobcenter bekannt, „das über diese Dinge verfügt“, sagt eine Sprecherin. In Hattingen meint Behördenchef Dürwald: „Wir haben mit Menschen zu tun und müssen kommunizieren – wir können nicht mit Kläppchen am Schalter wie früher bei der Bahn arbeiten.“

Seine Mitarbeiter sind nach dem Angriff geschockt. Immerhin: Der Sachbearbeiter lebt, es gehe ihm „den Umständen entsprechend gut“.