Die Hamburger SchreiBabyAmbulanz unterstützt seit zehn Jahren Mütter und Väter beim Umgang mit ihrem anstrengenden Nachwuchs. Doch das wichtige Projekt ist nun gefährdet. Von Hanna Kastendieck

Es gab einen Moment, an dem sie es fast getan hätte. Weil sie einfach nicht mehr konnte. Es nicht mehr ertragen konnte, dass dieses Baby ununterbrochen schrie. So lange, bis es keine Luft mehr bekam und blau anlief. Sie redete auf ihren Sohn ein, sang ihm Lieder vor, flüsterte in sein Ohr, sie streichelte ihn, lief mit ihm von Zimmer zu Zimmer. Schließlich packte sie ihn voller Wut, so, wie man einen Gegenstand greift, der nicht funktioniert. „Hör endlich auf“, schrie sie, „hör endlich auf zu brüllen!“

„Fast hätte ich meinen Sohn in diesem Moment geschüttelt. Ich konnte sein Gebrüll einfach nicht mehr ertragen“, sagt Svenja Kuhn (Name geändert). Svenja ist 32 Jahre alt. Mutter von Jonas. Er wurde am 16. August 2016 geboren. Zwei Wochen nach der Entbindung fing Jonas an zu schreien. Viele Stunden am Stück. Pausen gab es so gut wie keine. Weder Ärzte noch die Hebamme konnten helfen. „Er hat drei Monate lang ununterbrochen geschrien. Es war die Hölle“, sagt die Mutter. Eine Hölle, über die sie heute anonym zu reden bereit ist. Sie fühlt sich als Versagerin.

„Dabei wäre es gut, wenn Betroffene offen mit dieser Situation umgehen würden“, sagt Monika Wiborny. „Weil sie dann sehen würden, dass sie nicht allein mit dieser Sorge sind.“ Monika Wiborny ist Sozialpädagogin, Körpertherapeutin, Krisenbegleiterin. Sie leitet die SchreiBabyAmbulanz (SBA) Hamburg. Eine Anlaufstelle für Eltern mit Schreibabys. Ein Ort, an dem Mütter lernen, ihr Baby zu verstehen. Bis zu 100 Familien betreut SBA pro Jahr. Anfang November feierte das Projekt sein zehnjähriges Bestehen.

Für die betroffenen Eltern ist das Angebot der Ambulanz der Rettungsanker in einer scheinbar ausweglosen Situation. Denn das unstillbare Schreien eines Babys kann Eltern sehr belasten. In der SBA Hamburg lernen sie, das Kind zu halten, es sanft zu massieren und mit Geräuschen zu beruhigen. Aber auch, das Schreien auszuhalten, ohne die Nerven zu verlieren. Denn genau darin besteht die Gefahr: Wenn die Eltern für wenige Sekunden die Kontrolle über sich verlieren und ihr Baby schütteln, können sie ihm lebenslang schaden. Der Grund: Säuglinge können ihren Kopf noch nicht alleine halten. Beim Schütteln wird er vor- und zurückgeworfen. Dabei kann es zu schweren Verletzungen im Gehirn kommen. Blutgefäße und Nervenbahnen reißen, Krampfanfälle sowie geistige und körperliche Behinderungen können die Folge sein. Bis zu 30 Prozent der Kinder sterben sogar.

Monika Wiborny weiß, dass sie ein Schreibaby nicht von einem auf den anderen Tag zu einem friedlichen Kind machen kann. Aber sie kann den Müttern zeigen, wie sie eine brenzlige Situation mit kleinen Tricks durchbrechen können. Und sie kann dafür sorgen, dass die Mütter nicht an Selbstzweifeln ersticken, indem sie mit ihnen gemeinsam die Ursachen für die Situation herausfindet und ihnen klarmacht, dass sie keine Schuld haben. Wichtig sei auch, dass es den Müttern gut gehe, denn nur eine entspannte Mutter könne ihr Baby trösten. Also besteht ein wesentlicher Teil der Arbeit darin, die Mütter wieder auf die Beine zu kriegen.

Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 25 Prozent der Säuglinge Schreibabys sind. Das ist laut Definition ein Baby, das mehr als drei Stunden täglich, an mehr als drei Tagen pro Woche über mehr als drei Wochen schreit. Warum manche Babys exzessiv schreien und andere nicht, darauf haben die Experten keine klare Antwort. Die Gründe für das Dauergebrüll liegen zumeist in einer belasteten Schwangerschaft oder einer schwierigen Geburt. Auch ein Kaiserschnitt, fehlende Bindung, Stillprobleme oder postnatale Depressionen können das Dauergeschrei auslösen. „Die Geburt ist an sich schon eine große Belastung für Mutter und Kind“, sagt Monika Wiborny. „Bei jeder Wehe drücken 50 Kilogramm auf das Ungeborene.“ Eine Belastung, die nicht jeder einfach so wegstecken könne.

Auch Jonas konnte das nicht. „Ich wollte das Kind nicht“, sagt seine Mutter. „Es ist trotz Verhütung entstanden.“ Svenja Kuhn ist damals 30 Jahre alt, arbeitet als Sozialpädagogin. Die Schwangerschaft ist schwierig. Aufgrund frühzeitiger Wehen muss sie ab dem sechsten Monat liegen. Ebenso kompliziert ist die Geburt. Zweieinhalb Tage dauert sie. Vier Stunden sitzt der Säugling im Becken der Mutter fest. Zweimal gehen die Herztöne lebensbedrohlich runter. Zweimal müssen die Ärzte die Saugglocke ansetzen. Dann ist das Kind da. „Und ich hatte überhaupt keine Gefühle für den Jungen“, sagt die Mutter. Sie funktioniert einfach, versorgt das Neugeborene. Das Kind ist beängstigend still. „Und dann begann das Schreien“, erzählt sie. Monika Wiborny hat Tausende solcher Geschichten von verzweifelten Müttern gehört. Und sie hat für jede einen Weg gefunden, diese belastende Zeit zu bewältigen.

Zehnmal kommen die Mütter mit ihren Babys im Durchschnitt in die Ambulanz. Wie viel sie für die Leistung bezahlen, entscheiden sie selbst. Die Einnahmen decken bei Weitem nicht die laufenden Kosten, das Projekt finanziert sich ausschließlich über Spenden. Weil diese zur Neige gehen, hat der Verein jetzt um finanzielle Unterstützung bei der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) angefragt. Ohne Erfolg. Eine Förderung durch die BASFI, wäre nur für eine Zielgruppe – Hartz IV – möglich. „Das aber lehnen wir ab“, sagt Monika Wiborny, „da wir sonst keine Kapazitäten mehr für andere Familien vorhalten können.“ Ob das Angebot damit in Hamburg dauerhaft aufrechterhalten werden kann, ist fraglich. Für die Betroffenen ein unvorstellbarer Gedanke. Svenja Kuhn ist nicht sicher, ob ihr Sohn heute noch am Leben wäre, hätte sie nicht Hilfe in der Ambulanz gefunden.

Infos: SchreiBabyAmbulanz Hamburg,
Weizenkamp 16A, Tel. 45 92 48,
www.sba-kompetenzzentrum.de