Berlin.

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine rätselhafte Krankheit. Gene spielen eine Rolle, Viren, auch die Nähe des Wohnorts zum Äquator. 1000 Gesichter habe sie, sagen Neurologen und suchen fieberhaft nach der Ursache für diese Erkrankung des Zentralnervensystems. Die gängigste Hypothese zur Entstehung ist bereits über 70 Jahre alt und stellt das Immunsystem in den Mittelpunkt: Körpereigene Abwehrzellen richten sich gegen Zellen im Gehirn und zerstören sie – eine sogenannte Autoimmunkrankheit. Was aber, wenn alles ganz anders ist? Wenn die für die Krankheit so typischen Entzündungsherde erst der zweite Schritt sind und die eigentliche Krankheit viel früher, ganz unbemerkt beginnt?

Eine solche Theorie haben Wissenschaftler der Universität Halle (Saale) auf dem letzten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Leipzig vorgestellt. „Wir haben viel Gegenwind erwartet“, sagt der Neurologe Alexander Emmer, „aber im Gegenteil: Wir sind auf großes Interesse gestoßen.“ Der Wunsch, die bislang unheilbare Erkrankung zu heilen, ist groß.

In Deutschland ist MS die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS). Das ZNS umfasst Hirn und Rückenmark. Fachgesellschaften gehen nach einer Auswertung von Krankenkassendaten von mehr als 200.000 Erkrankten aus. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. Weltweit sind rund 2,5 Millionen Menschen erkrankt.

Dabei gleicht kaum ein Verlauf dem anderen – sitzt der eine Patient nach fünf Jahren im Rollstuhl, lebt der andere ein langes, nahezu beschwerdefreies Leben. Haben die meisten Betroffenen einen schubförmigen Verlauf, schreiten die Beschwerden bei anderen kontinuierlich voran. „Man könnte sogar die Frage stellen, ob es bei jedem die gleiche Erkrankung ist“, sagt Sandra Nischwitz vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie, die zu MS forscht.

Bislang wird die Entstehung der Krankheit so erklärt: Fehlgeleitete Immunabwehrzellen, die T-Lymphozyten, bewerten die Ummantelung der Nervenzellen im Gehirn, die Myelinscheiden, als Feind und greifen sie an. Die Ummantelung dient ähnlich wie bei einem Stromkabel der Isolierung der Nervenzellen. Ist sie kaputt, werden die Signale langsamer, falsch oder gar nicht übertragen. Dort, wo die T-Zellen die Myelinscheiden angreifen, kommt es zu den für MS typischen Entzündungsherden in Hirn und Rückenmark.

Die Neurologen Alexander Emmer und Martin Kornhuber und der Biologe Martin S. Staege von der Universität Halle hinterfragten nun gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern dieses klassische Modell. Damit sind sie nicht die Ersten, schon seit vielen Jahren gibt es in der Literatur Hinweise darauf, dass möglicherweise nicht die Autoimmunität Ursache für die Erkrankung ist. Doch das klassische Modell ist nach wie vor das aktuelle, an dem sich auch die Therapien orientieren. „Es gibt jedoch Hinweise, dass die Reaktion des Immunsystems, also die Entzündung, nicht das Erste ist, was bei der MS passiert“, sagt Staege, „sondern dass unbemerkt eine degenerative Phase einsetzt und darauf das Immunsystem mit einer Entzündung antwortet.“

Es ist wie die Frage nach Henne oder Ei. Was war zuerst da? Die Entzündungsherde oder die Zerstörung von Nervenzellen, die für typische Symptome wie Muskelschwäche, Erblindung oder Lähmungen verantwortlich sind? Was ist Ursache, was Wirkung?

Antworten auf diese Fragen sind entscheidend für die Entwicklung von Therapien. Denn bislang ist diese auf die Bekämpfung der Entzündungen, etwa mit der Gabe von Cortison, und die Beeinflussung des Immunsystems ausgerichtet. So könnte Anfang des Jahres eine neue Therapie zugelassen werden, die auch bei der kontinuierlich voranschreitenden und bislang schwer zu behandelnden primär progredienten MS helfen könnte. „Aber auch sie zielt auf die Entzündungen ab“, sagt Sandra Nischwitz. Und bessere Therapien gingen mit mehr Nebenwirkungen einher: „Wenn Sie stark ins Immunsystem eingreifen, steigt möglicherweise die Tumorgefahr und die Anfälligkeit für Infektionen.“ Emmer bestätigt das. „Wir kaufen uns immer mehr Nebenwirkungen ein“, aber das Fortschreiten der Behinderung werde durch die Behandlung nur marginal gebremst. Natürlich könnten mit der Immuntherapie Schübe verhindert werden, und sicher mache auch eine Entzündung etwas kaputt, „das ist aber nur die Spitze des Eisbergs“.

Die Hallenser Forscher setzen nun also ein Fragezeichen hinter die Hypothese, MS sei eine Autoimmunerkrankung. Sie machen nicht ein fehlgeleitetes Immunsystem für die Entstehung verantwortlich, sondern humane endogene Retroviren, kurz Herv. Bestandteile von diesen Herv können wirken wie „Superantigene“, also Sub­stanzen, die das Immunsystem besonders stark aktivieren. Im Labor konnten Forscher bereits zeigen, dass Superantigene bei Tieren ähnliche Effekte wie bei einer Multiplen Sklerose bewirkten.

Die Viren sind Teil des menschlichen Genoms

Im Verlauf der Evolution wurden diese Viren Teil des menschlichen Genoms und schlummern dort in Form von Herv-Sequenzen. Was aber, wenn sie durch äußere Einflüsse aufgeweckt werden und so eine Immunreaktion auslösen? In Zellkulturen von MS-Patienten konnten Forscher bereits vor längerer Zeit Herv-Partikel nachweisen. „Wir wissen, dass bei MS neben einer genetischen Veranlagung tatsächlich Umweltfaktoren eine Rolle spielen“, sagt Sandra Nischwitz. So wisse man etwa, dass es ein Nord-Süd-Gefälle hinsichtlich der Erkrankungszahlen gebe. Je näher man dem Äquator kommt, desto weniger Menschen haben Multiple Sklerose. „Hat das mit der Sonne und der Vitamin-D-Produktion zu tun? Mit Hygiene? Mit Ernährung? Mit Infektionen etwa mit dem Epstein-Barr-Virus? All das wissen wir nicht genau“, sagt Nischwitz.

Bestätigt sich die Theorie der Hallenser Forscher, könnte sich daraus eine neue Behandlungsoption ergeben – etwa die Therapie mit Antikörpern. „Man müsste eine Therapie entwickeln, die jene Viren stilllegt, die eine MS auslösen könnten“, sagt Alexander Emmer. Die Forscher suchen nun gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut Halle nach den geeigneten Kandidaten.