Schon von Weitem sieht sie das Blaulicht. Panisch rennt sie durch die Absperrungen, wird von Polizisten zurückgehalten. Sieht den Laden ihres Mannes, in dem sie ihn und ihren Sohn abholen wollte. Sieht die Trümmer, die von dem Laden übrig geblieben sind. Und bricht zusammen. Mit der Gewissheit, dass ihre Liebsten bei einem Anschlag ums Leben gekommen sind.

Fatih Akins „Aus dem Nichts“ ist ein Film über den Terror. Über den Verlust, die Ohnmacht, die Unmöglichkeit, damit fertig zu werden. Nein, es ist nicht ein Film, es sind drei. Der erste Teil ist ein Familiendrama, in dem diese Katja Sekerci, eine Deutsche, die einen Deutschtürken geheiratet hat, mit ihrem Verlust umgehen muss. Aber auch mit dem Misstrauen, das ihr entgegenschlägt. Katja Sekerci glaubt sofort, dass die Täter Nazis sind. Aber die Ermittler wollen von einem rechtsradikalen Hintergrund nichts wissen, denn ihr Mann war wegen Drogenhandels vorbestraft. Katjas Eltern glauben an eine Mitschuld des Toten. Dessen Eltern wiederum wollen seine Leiche und die des Enkels in die Türkei überführen. Der letzte Halt, den die Witwe hat, bröckelt, bis hin zur Selbstaufgabe.

Akin hat an einigen Tagen selbstam NSU-Prozess teilgenommen

Der zweite Teil ist ein klassisches Gerichtsdrama, in dem die Emotionen der Betroffenen auf die nüchterne Sachlichkeit des Prozesses trifft. Da muss die Frau das minutiöse Protokoll, wie die Opfer ums Leben kamen, qualvoll miterleben. Ebenso das kaltherzige Schweigen der Täter. Und die berechnenden Versuche des Verteidigers, Zweifel zu säen, sodass kein eindeutiges Urteil möglich ist.

Der dritte Teil ist dann eine Art Rachedrama. Weil Katja die freigesprochenen Täter verfolgt, bis nach Griechenland. Um sie zu stellen – und endlich Frieden zu erlangen. Es ist der kniffligste Teil. Weil der Film bei der Frage der Selbstjustiz einen Teil seines Publikums verlieren könnte, das bis dahin nah und vorbehaltlos bei der Protagonistin ist. „Aus dem Nichts“ belässt es eben nicht beim Protokoll des Verlusts und Justizversagens. Der Film wirft seine Figur, und auch die Zuschauer, auf sich selbst zurück.

Natürlich ist Akins Film eine Reaktion auf den NSU-Terror. Die Art, wie die Ermittlungen geführt wurden, haben ihn wütend gemacht. Der Hamburger Regisseur hat selbst an einigen Tagen am Prozess teilgenommen und sich durch Akten gewühlt. Ein Teil der Gerichtsszenen entspricht dem Prozessverlauf. Als „Aus dem Nichts“ auf dem Festival in Cannes lief, wurde er von der internationalen Kritik gefeiert. Aber deutsche Medien meldeten Kritik an. Weil er sein hochpolitisches Thema nicht tief genug auslote. Doch über die Aufarbeitung des NSU-Terrors gibt es ja einen preisgekrönten TV-Dreiteiler: „Mitten in Deutschland: NSU“.

Akins Blick hat sich dagegen verengt und geweitet. Verengt, weil er sich ganz auf eine Perspektive konzentriert. Der Regisseur und Drehbuchautor gibt endlich den Opfern ein Gesicht. Zugleich weitet sich sein Blick. Weil er über den Einzelfall hinaus etwas über die Auswirkungen des globalen Terrorismus erzählt.

Und noch ein merkwürdiger Vorwurf wurde dem Film gemacht. Dass seine Hauptfigur eine deutsche und keine türkischstämmige Frau sei. In Hollywood wird so etwas als „White­washing“ gegeißelt. Aber das ist keine Frage einer womöglich höheren Identifikation beim Publikum. Es ist die größtmögliche Zuspitzung, eine gezielte Provokation: dass eine blonde, blauäugige Deutsche sich mit Nazis anlegt.

Akin bleibt ganz nah bei seiner Protagonistin. Und findet bei diesem Film zu der Wut und der wuchtig-emotionalen Filmsprache früherer Werke wie „Gegen die Wand“ zurück. Und dann ist da noch Diane Kruger. Der Hollywoodstar, der, obwohl in Niedersachsen geboren, noch nie in einem deutschen Film mitgespielt hat. Sie trägt diesen Film mit einer uneitlen, rohen Kraft, sie „spielt“ nicht, sie geht an Schmerzgrenzen und berührt direkt. Das hat man ihr nicht zugetraut. Und vielleicht hat es einen Akin gebraucht, der das in ihr erkannt und hervorgebracht hat. Hier spielt Kruger die Rolle ihres Lebens.

„Aus dem Nichts“ D 2017, 106 Minuten, ab 12 Jahren, Regie: Fatih Akin, Darsteller: Diane Kruger, Denis Moschitto, Numan Acar, täglich im Abaton, Cinemaxx Dammtor/Harburg/ Wandsbek, Holi, Koralle, Passage, Studio, UCI Mundsburg/Othmarschen-Park/Wandsbek, Zeise