Diese Frau bändigen? Das ist nichts als ein Männertraum. Ende Januar steht Christoph Marthalers preisgekrönte Inszenierung von Alban Bergs „Lulu“ wieder auf dem Spielplan der Staatsoper

Die Partie der Lulu in Alban Bergs gleichnamiger Oper gilt als eine der schwersten überhaupt für Koloratur­sopran. Der Komponist schickt die Sängerin in stratosphärische Höhen. Obendrein ist sie fast die ganze Zeit auf der Bühne, und dann hat sie auch nicht gerade geschmeidige Mozart-Girlanden zu singen, sondern Zwölftonmusik. Die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan ist mit dieser ­Herausforderung offenbar noch nicht ausgefüllt. Jedenfalls absolviert sie die Partie in der Inszenierung von Christoph Mar­thaler mal hüpfend wie ein Gummiball und mal im Handstand. Sie singt, während sie eine Rolle rückwärts beschreibt oder von einem ihrer vielen Männer vor Wut wie eine Puppe an Arm und Bein ausgeschüttelt wird.

Eine andere Interpretin als Hannigan ist für diese Lesart unmöglich zu finden

Hannigans akrobatische Leistung verschlug dem Premierenpublikum im Februar dieses Jahres den Atem. Und doch steht sie nur emblematisch für das, was Marthalers Inszenierung so besonders macht. ­Anfang November wurde er für diese Produktion mit dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnet. Ab Ende ­Januar steht „Lulu“, nach der umjubelten Premiere waren sämtliche Vorstellungen im Handumdrehen ausverkauft, wieder für vier Abende auf dem Spielplan – natürlich mit Hannigan in der Hauptrolle; eine andere Interpretin für Marthalers Lesart zu finden dürfte unmöglich sein. Die Rolle der Gräfin ­Geschwitz übernimmt Angela ­Denoke ­anstatt Anne-Sofie von Otter, in den übrigen Rollen ist die Premierenbesetzung zu erleben.

Marthaler und seine langjährige Bühnenbildkollegin Anna Viebrock haben faszinierend präzise Bilder für die Aussagen des Werks gefunden. Berg hatte sich aus zwei Dramen des scharf sozialkritischen Autors Frank Wedekind sein eigenes ­Libretto kongenial zugeschnitten. Lulu als brave Ehefrau, als Muse, als Geliebte, als Dirne und was dergleichen Zuschreibungen mehr sind: Es ist ein Gemeinplatz, dass dieser Vamp eine Projektionsfläche für die Männer ist.

Marthaler und Viebrock aber gehen in Hamburg weiter. Sie übersetzen die Radikalität und die Neigung zur Groteske in eine ganz eigene Bildsprache. Vom gleichsam abstrahierten Zirkusambiente, dem alles leuchtend Bunte abhandengekommen ist, bis in die stilisierten Bewegungen hinein findet sich der Betrachter in einer Welt des „als ob“.

Lulu ist als Persönlichkeit nicht zu fassen. Sie verweigert sich den ihr aufgezwungenen Projektionen, indem sie sie unterläuft. Sie mag sich körperlich hingeben, doch ihr Herz bleibt versiegelt. Sie plappert und zappelt, statt sich zu öffnen. Mit solchen Metaphern der Sprachlosigkeit zeichnen Marthaler und Viebrock ein düsteres Bild jener menschlichen Isolation, die man Moderne nennt, ganz im Sinne Frank Wedekinds. Der schrieb schon 1912: „Es kam mir bei der Darstellung um Ausschaltung all der Begriffe an, die logisch ­unhaltbar sind wie: Liebe, Treue, Dankbarkeit.“ Noch Fragen?

Der Beziehungslosigkeit auf der Bühne steht ein konstruktives Geflecht gegenüber, wie es raffinierter kaum sein könnte. Alban Berg selbst hat auf die Symmetrie seines Werks großen Wert gelegt. So war es seine Entscheidung, die Männer in Doppelrollen anzulegen; der Tierbändiger des Anfangs kehrt als Athlet wieder und Dr. Schön, Lulus zweiter Ehemann, als ihr Mörder Jack the Ripper. Das Handlungs­gerüst der „Lulu“ ist als gleichschenkliges Dreieck konzipiert: hier der gesellschaftliche Aufstieg der Figur, dort ihr Niedergang mit Krankheit und Tod in elenden Verhältnissen.

Das Schicksal höchstselbst war es, das diese Struktur infrage stellte: Berg starb im Dezember 1935 an einem Abszess, bevor er die Oper fertigstellen konnte. Dem dritten Akt fehlt deshalb über weite Strecken die Instrumentierung. Dafür haben sich aufführungspraktisch grob gesagt zwei ­Lösungen eingebürgert: Entweder man spielt „Lulu“ nur in zwei Akten und macht so den fragmentarischen Charakter deutlich, oder man entscheidet sich für die Ausarbeitung des dritten Akts von Friedrich Cerha, die nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Erben Bergs 1979 uraufgeführt wurde.

Marthaler und Generalmusikdirektor Kent Nagano haben für die Hamburger Fassung einen dritten Weg gewählt, der die biografischen Entstehungsbedingungen auf anrührende Weise miteinbezieht: Die nicht instrumentierten Teile erklingen in reduzierter Besetzung als Bühnenmusik, und als Teil des dritten Akts spielen die Geigerin Veronika Eberle – von der Bühne aus – und das Philharmonische Staatsorchester Bergs Violinkonzert „Im Andenken eines Engels“.

Der Engel war Manon Gropius, die Tochter von Alma Mahler-Werfel, die mit 19 Jahren an Kinderlähmung gestorben war und die Berg geliebt hatte wie ein eigenes Kind. Er schob für das Violinkonzert die Arbeit an der Oper auf. Bis es zu spät war.

„Lulu“ 27. und 30.1., 3. und 8.2.2018, jeweils 18.30 Uhr, Staatsoper. Karten zu 12,- bis 97,- unter T. 35 68 68