Das Jamaika-Aus ist eine Blamage. Neuwahlen wären eine Frechheit gegenüber den Bürgern. Ein Essay

Wir haben verstanden, haben sie nach der Bundestagswahl gesagt. Wir werden Konsequenzen ziehen, haben sie versprochen. Und: Wir nehmen den Kampf gegen Politikverdrossenheit an, wir tun was für die Protestwähler und gegen die Protestparteien.

Und jetzt das. In der Bundesrepu­blik Deutschland, einem der am besten organisierten und funktionierenden Staaten der Welt, gelingt es den gewählten Volksvertretern nicht, eine Regierung zu bilden. Sie scheitern, bevor ihre Arbeit überhaupt angefangen hat, und sprechen allen Ernstes von Neuwahlen. Geht’s noch?

Sehr geehrte Damen und Herren Politiker, vielleicht ist es Ihnen entgangen: Wir, das Volk, haben schon gewählt, es ist gar nicht so lange her. Und wir haben gewählt, weil wir von Ihnen erwarten, dass Sie uns und unser Land in unserem Sinne regieren. Sie sind dafür da, sich um unsere Probleme zu kümmern, nicht umgekehrt. Erneut wählen zu müssen wäre keine Lösung – das wäre eine Frechheit, und Geldverschwendung wäre es obendrein.

Die Wähler können nichts dafür, dass große Teile der sogenannten eta­blierten Parteien offenbar mehr mit der eigenen Zukunft beschäftigt sind als mit jener des Landes. Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrte Parteifunktionäre: Es geht nicht um Sie, es geht um unser Gemeinwesen. Erst das Land, dann die Partei. Schon vergessen?

Als Wähler erwarten wir ja keine unmöglichen Dinge. Die CDU/CSU soll keine Gespräche mit der AfD aufnehmen oder die FDP sich den Linken annähern. Wir hatten nur die Hoffnung auf ein Bündnis eher bürgerlicher Parteien und darauf, dass der Wählerwille so umgesetzt wird, wie er nun einmal ist. Das ist nicht banal, aber nun einmal eine der wichtigsten Aufgaben der Parteien in einer Demokratie.

Seit der Bundestagswahl am 24. September hat es zwei mögliche Regierungsoptionen gegeben. Dass Sie, sehr geehrte Damen und Herren von CDU/CSU, Grünen, FDP und SPD, offenbar keine von beiden nutzen können oder wollen, ist erbärmlich und zeigt, dass Sie offenbar doch nicht verstanden haben, siehe oben.

Die Rolle der FDP, gerade aus der außerparlamentarischen Opposition auferstanden, ist dabei die erstaunlichste. Sie macht sprachlos. Christian Lindner hat vor der Wahl gesagt, dass man weiter Fehler machen werde, aber wenigstens nicht die Fehler von früher. Und dann wird aus der neuen liberalen Ernsthaftigkeit in einer Nachtaktion politische Verantwortungslosigkeit, auch wenn Lindner und Co. das natürlich anders sehen. Der Parteivorsitzende riskiert mit seinem Verhalten, was er am 24. September erreicht hat. Kann sein, dass das gut geht, wenn es wirklich Neuwahlen geben sollte. Kann aber genauso gut sein, dass die Wähler in solch einem Fall vor allem die FDP abstrafen werden und sich Geschichte wiederholt. So stabil, dass sie nicht wieder in Richtung fünf Prozent abrutschen könnten, sind die Liberalen nämlich nicht. Lindner spielt alles oder nichts, und der Wähler fragt sich: Warum er? Warum die FDP? Nach all dem, was sie hinter sich hat? Oder wegen all dessen, was sie hinter sich hat?

Die anderen Jamaika-Sondierer können wenigstens für sich in Anspruch nehmen, es nicht zum Äußersten haben kommen zu lassen. Verlierer sind auch sie. Wer sah, wie sich Vertreter der CSU und der Grünen wenige Stunden vor dem Aus der Gespräche bei „Anne Will“ im Fernsehen angifteten, konnte es kaum glauben. Hatten die es immer noch nicht begriffen? Dass der Wahlkampf vorbei war und dass es nun nicht mehr um ihre Interessen, sondern um die der Bundesrepublik Deutschland ging? Solche und unzählige andere Gespräche, Interviews und TV-Sendungen gewährten während der Jamaika-Verhandlungen einen verstörenden Einblick in das Innenleben deutscher Spitzenpolitiker.

Wie engstirnig und wenig kompromissbereit müssen erwachsene, in der Politik erfahrene Menschen sein, wenn es ihnen innerhalb von vier Wochen nicht gelingt, Grundlagen für ein gemeinsames Projekt zu legen? Ach, was heißt engstirnig und wenig kompromissbereit: Kindisch ist das richtige Wort. Sie wissen schon: „Der hat aber angefangen“, „ich war das nicht“, „da sollen die sich erst mal an die eigene Nase fassen“. Und der Ruf nach Mama, sprich „Mutti“? Wirkungslos, weil Mutter Merkel die alte Familie und den Familienzuzug nicht in den Griff bekam. Auch dieses, aus Wählersicht: enttäuschend.

Man muss doch von deutschen Spitzenpolitikern eine Souveränität sowohl im Umgang mit Wahlergebnissen als auch mit dem politischen Gegenüber erwarten können. Wie das geht, haben SPD und CDU in Niedersachsen in Rekordzeit gezeigt. Und deren Spitzenkandidaten sind im Wahlkampf deutlich brutaler miteinander umgegangen als jene in der Blase Berlin.

Dass auch die SPD in dieser Lage (noch?) zuerst an sich und nicht an das Land denkt, macht die Situation endgültig unerträglich. Sehr geehrte Sozialdemokraten, es ist Ihre Entscheidung, sollten Sie in der Opposition bleiben. Aber jammern Sie am nächsten Wahltag nicht herum, wenn Sie sehen, wohin die Stimmen der Wutbürger gegangen und dass die politischen Ränder breiter geworden sind. Das ist auch die Schuld der etablierten Parteien, nach der Bundestagswahl deutlich stärker als vorher.

Übrigens: Was nach Neuwahlen an Koalitionen möglich sein wird, lässt sich heute leicht vorhersagen. Schwarz-Rot zum Beispiel. Oder Jamaika. Oder, wenn es ganz gut für die SPD läuft, Rot-Rot-Grün. Aber das will die Politik ja alles nicht.

Wo ist der Mut für Deutschland? Oder bleibt nur die Wut?