„Human Flow“, die erste Dokumentation des chinesischen Regimekritikers Ai Weiwei, zeigt Flüchtlingsbilder aus 23 Ländern

Feuerrote Westen tanzen auf Schaumkämmen, 100 Menschen treiben in einem Boot so groß wie eine Nussschale, andere zittern in Aludecken. Dann fliegt die Kamera weiter zu Menschen, die durch Schlamm waten, an Grenzzäunen vorbei, in Richtung eines Ziels, von dem sie nicht wissen, ob sie es erreichen. Wenige Bilder weiter geht es zu anderen Menschen auf anderen Wegen. Man verliert schnell den Überblick, wer gerade wohin flieht und warum. 65 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Mit „Human Flow“, seinem ersten Dokumentarfilm, widmet sich der chinesische Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei dieser Völkerwanderung, der größten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Angefangen hat alles mit einem Urlaub. Ai Weiwei ist mit seinem Sohn in Griechenland. Er zeigt ihm die Insel Lesbos, als die beiden ein Boot entdecken, bis an die Belastungsgrenze gefüllt mit Menschen. Ai Weiwei zückt sein Smartphone, filmt, kann nicht glauben, was er sieht. Das lässt ihn nicht mehr los. Deshalb wird er in den nächsten Monaten mit seinem Team 23 Länder besuchen und mit Geflüchteten sprechen. Er wird ihnen Tee reichen, Taschenlampen und Aludecken.

Der Film setzt immer auch Ai Weiwei, den Künstler, den Aktivisten, ins Bild

Seine Doku beschäftigt sich zwar mit dem Schicksal dieser Millionen, die ihr Zuhause verlassen haben und ein neues suchen. Der Film zeigt aber auch immer wieder ihn, den Künstler, den Aktivisten. Vielleicht, weil er selbst ein Heimatloser ist. Weil er, in China zu Unrecht angeklagt und ins Gefängnis gesteckt, sich seither nirgendwo zu Hause fühlt. Auch nicht in Berlin, wo er seit zwei Jahren lebt, seit er seinen Pass zurückerhalten hat.

Dass er sich immerzu vor der Kamera einmischt, empfinden einige als PR-Show. Als „Human Flow“ Premiere auf dem Filmfestival von Venedig feierte, rümpfte mancher die Nase. Der Film sei oberflächlich, beschäftige sich nicht mit den Fluchtursachen, wolle zu viel, und dann ist Ai Weiwei selbst andauernd zu sehen. All das stimmt. All das stört nicht.

Klar, Ai Weiwei versteckt sich nicht hinter der Kamera, er sucht den Kontakt. Aber ­dafür ist man doch auch ins Kino gegangen: um ihn zu sehen. Und ja, in den 140 Minuten sieht man häufig Ähnliches. Man fliegt mit Drohnen über zerbombte Städte und über Zeltdörfer, über die Sahara und Bangladesch, Mexiko, Griechenland, Jordanien, die Türkei. Irgendwann gleichen sich die Orte und die Menschen: Mütter, die um eine Flasche Milch kämpfen, Männer, die ins Leere starren. Überall Menschen. Zitternd, wartend, verzweifelnd. Ihr Leid drückt einen immer tiefer in den Kinosessel, es lastet wie ein Sack Zement auf dem Brustkorb. Das ist gut.

Denn wen das Schicksal dieser Menschen bisher nicht interessiert hat, der wird das Kino nicht mehr leichtfüßig verlassen. Die Frage, ob das nun Kunst ist oder Aktivismus, ob man damit etwas erreicht und ob man mehr Leute ins Kino zieht als die, die sich ohnehin interessieren, ist müßig. Weil ein Film wie dieser in Zeiten wie diesen wichtig ist.

„Human Flow“ Deutschland 2017, 140 Min., ab 6 J., R: Ai Weiwei, täglich im Abaton (OmU), Zeise (OmU); www.filmweltverleih.de