Berlin.

Um den Klimawandel auch denen ins Gedächtnis zu rufen, die sich immer noch nicht davon beeindrucken lassen, erinnert der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Hans Joachim Schellnhuber, gern an den Nansen-Pass. 1922 hatte Fridtjof Nansen, einst Hochkommissar des Völkerbunds für Flüchtlingsfragen, den Pass für staatenlose russische Flüchtlinge entworfen. 53 Länder erkannten ihn an, noch im gleichen Jahr wurde Nansen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. So einen Pass, sagt Schellnhuber, könne er sich auch für die Migranten vorstellen, die aufgrund des Klimawandels vor Hunger, Hitze und anderer Not ihr Land verlassen müssen.

Schellnhubers Prognosen zufolge werden Hunderte Millionen Menschen langfristig nach neuem Lebensraum suchen – sollte sich die Klimaerwärmung auf zwei Grad zubewegen, wonach es derzeit aussieht. „Was läge näher, als dass die Staaten, die Schuld an der Misere haben, ihre Grenzen öffnen?“, sagt Schellnhuber und schiebt lapidar hinterher: „Wir brauchen einen Planetenpass.“ Eine Vorstellung, die vielleicht vor allem den sogenannten besorgten Bürgern aus der Flüchtlingskrise erneut Schweißperlen auf die Stirn treiben werde – und den Blick für den globalen Klimaschutz schärfen dürfte.

Wissenschaftler fühlen sich nicht wahrgenommen

Der Chef des Potsdam-Instituts will wachrütteln. In einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz des Deutschen Klima-Konsortiums, Verband der führenden Wissenschaftsakteure in Deutschland, informierte Schellnhuber am Donnerstag mit weiteren renommierten Klimaexperten in der Berliner Humboldt-Universität über die ersten Eindrücke der Weltklimakonferenz, die derzeit in Bonn stattfindet. Das Anliegen erinnert an einen Verzweiflungsakt.

Das Zwischenfazit: Obwohl die Lage beim Klima noch nie so ernst war, würden die Warnungen der Experten kaum wahrgenommen. Selbst die Grünen, kompromissbereit bei Kohleausstieg und Dieselverbot, zeigten bei den Klimaschutzzielen keine Eile mehr. Bei den Koalitionsverhandlungen der Parteien müssten konkrete Schritte für den Klimaschutz vereinbart werden, lautete der Appell der Wissenschaftler.

„Die Lösungen liegen auf dem Tisch“, sagte der Kieler Wissenschaftler und Vorsitzende des Deutschen Klimakonsortiums, Mojib Latif. Ein erster zentraler Punkt sei dabei der Kohleausstieg: Ohne rasche Abschaltung der „schmutzigsten“ Kraftwerke werde Deutschland das Klimaziel 2020 drastisch verfehlen. Doch die deutsche Politik, da sind sich die Forscher einig, nehme zu viel Rücksicht auf einzelne Interessen – ob die der Kohleindustrie oder Autobranche. Die Arbeitsplätze in der Braunkohleindustrie würden in Zukunft sowieso automatisiert, die Beschäftigten sollten besser für boomende Zukunftsmärkte umgeschult werden, schlug Schellnhuber vor. „Die Behauptung, dass Deutschland mit Umweltschutzmaßnahmen eine Deindustrialisierung erfährt, ist eine freche Lüge.“

Klare Entscheidungen von der künftigen Bundesregierung fordert auch Gernot Klepper, Klimaökonom am Institut für Weltwirtschaft. „Die Wirtschaft will in Klimaschutz investieren, das macht sie immer wieder deutlich. Dafür braucht sie aber gesetzliche und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen. Andere Länder sind da weiter. In Norwegen müssen Fahrer von E-Autos keine Steuern für ihre Wagen zahlen, dürfen kostenlos parken und Strom tanken. Deshalb erfährt Norwegen einen Elektroauto-Boom. Argentinien setzt beispielsweise in der Landwirtschaft inzwischen auf klima- und umweltfreundliche Anbaumethoden. China ist nun der mit Abstand größte Solarmarkt der Welt: Nach offiziellen Zahlen hat die Volksrepublik 2016 die installierte Fotovoltaik-Leistung erneut fast verdoppelt. Und Deutschland? Wenn es hier keine verbindlichen Gesetze zum Klimaschutz gebe, verliere Deutschland in vielen Zukunftsmärkten die Wettbewerbsfähigkeit, ist sich Klimaökonom Gernot Klepper sicher. Das war auch das zentrale Anliegen von 50 deutschen Unternehmen, die jüngst als „Stiftung 2 Grad“ von der künftigen Bundesregierung mehr Klimaschutz verlangte.

Eile ist auch geboten, wenn es um die Folgen der Klimaerwärmung geht. Das hat unter anderem auch der tropische Wirbelsturm „Harvey“ in den USA verdeutlicht, dessen Heftigkeit Forscher auf die Erderwärmung zurückführen. „Harvey“ forderte 77 Todesopfer, die Zerstörungen werden auf 190 Milliarden Dollar geschätzt. Der US-Wetterdienst musste eine neue Farbskala entwickeln, weil er es zuvor noch nie mit solchen Regenmassen zu tun hatte. Auch die Stärke des Hurrikans „Maria“ soll eine Folge der globalen Erwärmung sein. „Maria“ legte Puerto Rico in Schutt und Asche, in nur acht Stunden verlor das Außengebiet der USA 21 Prozent des Bruttoinlandprodukts, zwölf Jahre Entwicklungszeit wurden vernichtet. „Die Fälle zeigen, wie weit wir schon drin sind“, warnt Klimaforscher Latif.

Eine kürzlich vorgestellte Studie belegte darüber hinaus die drastische Gesundheitsgefahr der Umweltverschmutzung für den Menschen. Demnach ist zu viel Dreck in Wasser und Luft verantwortlich für weltweit jeden sechsten vorzeitigen Todesfall. Allein in Deutschland sterben jährlich rund 66.000 Menschen durch Feinstaub. Diese Ergebnisse könnten das Bewusstsein für Umwelt- und Klimaschutz möglicherweise beeinflussen, glaubt Klimaforscher Schellnhuber. Wichtig sei am Ende das Ergebnis: „Wenn wir unsere Nachkommen nicht umbringen wollen, sollten wir jetzt sofort handeln. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.“