Als Agatha Christies Roman „Murder On The Orient Express“ 1934 erschienen war, hieß die deutsche Ausgabe noch „Die Frau im Kimono“. Erst seit Sidney Lumets starbesetzter Kinofassung von 1974 lautet der Buchtitel auch bei uns „Mord im Orient-Express“. Nun hat sich Schauspieler und Regisseur Kenneth Branagh („Hamlet“, „Thor“) den abstrusen Mordfall erneut und nicht weniger starbesetzt vorgenommen. Dabei hält er sich akribisch an die literarische Vorlage, stellt aber die von ihm selbst bravourös gespielte Rolle des Meisterdetektivs Hercule Poirot so sehr in den Mittelpunkt, dass andere wichtige Charaktere bis zur Beliebigkeit verblassen.

Branagh, der Schauspieler, versteht es, der von Albert Finney in der Erstverfilmung, von David Suchet im Fernsehen und vor allem von Peter Ustinov geprägten Figur des belgischen Ermittlers Hercule Poirot neue Facetten abzugewinnen. Und Branagh, der Regisseur, nutzt die Möglichkeiten modernster Computer-Kinotechnik breitflächig aus, lässt auf imposante Weise zunächst das Jerusalem, dann das Istanbul der 30er-Jahre opulent erstehen, bevor der Orient-Express dampfend durch tief verschneite Balkan-Landschaften keucht.

Branagh hat dem Film einen Prolog vorangestellt. Wir schreiben das Jahr 1934. Vor der Klagemauer in Jerusalem löst Poirot einen Diebstahlsfall, in den ein Rabbi, ein Priester und ein Imam verwickelt sind. Bravourös entlarvt der scharfsinnige Belgier mit dem gigantischen Schnurrbart den Polizeichef als wahren Dieb einer kostbaren Schatulle. Doch bleibt dieser schnell gelöste Fall nur ein Vorwand, um Poirots Charakter auszuloten. Poirot ist ein Mann von Recht und Ordnung. Und ein Pedant, was sich nicht nur in der Suche nach dem perfekt geformten Vier-Minuten-Ei ausdrückt. Er ist ein nüchtern und logisch kombinierender Einzelgänger, der aber auch melancholische Momente hat, wenn er auf ein vergilbtes Foto blickt und seiner „lieben Katerine“ hinterher trauert. Mehr von dieser Verflossenen erfährt man freilich nicht.

Die prominente Darstellerriege in den Zugabteilen ist beeindruckend

Nun muss Poirot nach London. Im Orient-Express von Istanbul nach Calais trifft er auf zwölf Mitreisende. Da ist der Geschäftsmann Edward Ratchett (Johnny Depp) samt Assistent (Josh Gad) und Butler (Derek Jacobi). Da erscheint Prinzessin Dragomiroff (Judi Dench) mit ihrer deutschen Zofe (Olivia Colman). Michelle Pfeiffer ist als aufgekratzte Witwe zu sehen und Willem Dafoe als undurchsichtiger Professor.

Das dubiose Dutzend voll machen Penélope Cruz als bigotte Missionarin, ein Arzt (Leslie Odom Jr.), ein Autohändler (Manuel Garcia-Rulfo), eine Gouvernante (Daisy Ridley) sowie ein Graf (Startänzer Sergei Polunin) und seine medikamentensüchtige Frau (Lucy Boynton). Starbesetzt, in der Tat, wobei mancher im Ensemble unterfordert wirkt.

Als der Zug mitten in Jugoslawien zwischen Vinkovci und Brod durch eine Lawine zum Nothalt gezwungen wird, liegt der windige Mr. Ratchett morgens tot in seinem Abteil. Mit zwölf Messerstichen in der Brust. Poirot beginnt die Anwesenden zu verhören. Dabei ist er ganz allein auf seine Kombinationsgabe angewiesen. Und wenige Beweistücke: ein Pfeifenreiniger, ein Taschentuch, eine Schaffneruniform, ein roter Kimono. Jeder der Passagiere hat ein Alibi. Aber auch eine Verbindung zum Opfer. Das finale Verhör, bei dem Poirot zwei Versionen des Tathergangs offeriert, findet nicht im Salonwagen, sondern in einem Tunnel statt. Die Verdächtigen sitzen dabei an einem langen Tisch – aufgereiht wie in da Vincis „Abendmahl“.

„Es gibt nur richtig und falsch, dazwischen ist nichts“, sagt Poirot einmal selbstbewusst. Nach diesem kniffligen Fall wird „der wahrscheinlich größte Detektiv der Welt“ indes eines Besseren belehrt. Er muss vor seiner eigenen Gut-und-böse-Weltsicht kapitulieren. Dieser „Mord im Orient-Express“ besticht durch Ausstattung und Zeitkolorit, die Spannung kann er aber trotz eines famosen Branagh über zwei Stunden nicht halten.

„Mord im Orient-Express“ USA/GB 2017, 154 Minuten, ab 12 Jahren; Regie: Kenneth Branagh, Darsteller: Kenneth Branagh, Penélope Cruz, Willem Dafoe, Judi Dench, Johnny Depp, Michelle Pfeiffer, täglich im Cinemaxx Dammtor/Harburg, Elbe, Hansa, Passage, Savoy (OF), UCI Mundsburg/Othmarschen Park/Wandsbek