Die Tragikomödie „Casting“ ist ein hoch vergnüglicher Blick hinter die Kulissen – und bis in die Nebenrollen großartig besetzt

Muss eine Andrea Sawatzki eigentlich noch zu Castings? Ist sie nicht längst in der Star-Klasse, die einem diese Demütigung, dauernd vorsprechen zu müssen, erspart? Darum genau geht es im Film „Casting“. Frau Sawatzki kommt, der Produzent ist hin und weg. Wegen ihres Aussehens, wegen ihres Namens. Aber die Regisseurin verlangt dennoch, dass die Schauspielerin mal etwas vorsprechen soll. Wie, vorsprechen? Die Sawatzki guckt ganz ungläubig, als sei das unter ihrer Würde.

Unwillig tut sie es dann doch, aber schon bald bricht die Regisseurin ab. Nein, das sei überhaupt nicht das, was sie sich vorstelle. Das Team hält den Atem an, der Produzent rauft sich die Haare. Und die Diva geht beleidigt. Aber dann kommt sie noch einmal zurück. Sagt (sie hat sich also doch aufs Casting vorbereitet) einen giftigen Monolog aus dem Drehbuch auf. Aber sie baut sich dabei vor der Regisseurin auf, schleudert ihr die gemeinen Worte direkt ins Gesicht, jeder Satz eine persönliche Beleidigung, und rauscht dann ab. Welch ein Auftritt, welch ein Abgang!

Ein Klassiker von Rainer Werner Fassbinder soll neu verfilmt werden

Natürlich, um die Frage zu beantworten, muss auch eine Andrea Sawatzki zu Castings. Es geht bei Filmen ja nicht (nur) darum, prominente Schauspieler zu gewinnen, auch die Chemie zwischen ihnen muss stimmen. Und das kriegt man eben nur heraus, wenn man es mal ausprobiert. Wie das aber eigentlich abläuft bei Castings und was dabei so passiert, das sind eigentlich gut gehütete Geheimnisse der Branche. Nicolas Wackerbarths Film „Casting“ wagt den Tabubruch und bietet einen schonungslosen Blick hinter die Kulissen. Filme übers Filmemachen gibt es genug; dass es Chaos, Tränen und Psychokrieg aber schon in der Vorstufe gibt, das hat man so noch nie gesehen.

Kein x-beliebiger Film soll hier gedreht werden. Zum 75. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder (der wäre 2020) soll einer seiner Klassiker, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, fürs Fernsehen neu verfilmt werden. Es kann nicht schaden und erhöht den Unterhaltungswert ungemein, wenn man das Fassbinder-Werk kennt oder auch mal die Bühnenbearbeitung erlebt hat. Aber das ist keine Voraussetzung, „Casting“ funktioniert auch so teuflisch gut.

Gleich fünf großartige Schauspielerinnen treten hier auf: Schaubühnenstars wie Ursina Lardi und Corinna Kirchhoff, Filmschauspielerinnen wie Marie-Lou Sellem, besagte Frau Sawatzki und Viktoria Trauttmansdorff. Alle bringen sie ein Ego mit, aber natürlich nicht ihres. Schauspielerinnen spielen Schauspielerinnen, das ist eine herrliche Doppelung, die den Spaß erhöht.

Die jüngeren Kandidatinnen sind sichtlich nervös. Und die Regisseurin, von Judith Engel ebenfalls genüsslich verkörpert, nutzt das aus und provoziert sie. Sie wird dafür von den erfahreneren Schauspielerinnen herausgefordert und entpuppt sich als genauso verunsichert. Es sind nur noch sechs Tage bis Drehstart, und sie hat noch keine Hauptdarstellerin.

Das Team ist sichtlich angespannt, der Produzent mehr als gereizt, die Casting-Agentin zunehmend sauer, weil all ihre Vorschläge in den Wind geschlagen werden. Alle Nerven liegen blank, nur die Zuschauer des Films haben ihr Vergnügen daran. Und erblicken das Ganze durch den Blick eines Außenstehenden: den arbeitslosen Gerwin (Andreas Lust), der bei all den Damen den „Anspieler“ geben muss, weil der Hauptdarsteller keine Zeit hat. Dieser Gerwin hat sichtlich Spaß daran, dass sich sein Aushilfsjob durch die Entscheidungsschwäche der Regisseurin verlängert. Er genießt das Spiel mit den prominenten Damen und will schließlich auch beim Film mitmachen. Aber alle lassen ihren Frust an ihm aus. Man könnte „Casting“ ohne Weiteres „Die bitteren Tränen des Gerwin“ nennen.

Die Geschichte handelt von Macht, Abhängigkeiten und Hackordnung

Nicolas Wackerbarth weiß, wovon er filmt. Er ist nicht nur Regisseur, sondern auch Schauspieler, spielte etwa Nebenrollen in „Mitfahrer“ oder „Toni Erdmann“. Er kennt also beide Perspektiven aus dem Casting und könnte, wie er offen bekennt, „einige – auch für mich – peinliche Anekdoten erzählen“. Und hat auch schon selbst den Anspieler gegeben. Sein Film ist wohl auch so etwas wie eine persönliche Aufarbeitung. Aber weit mehr: ein tolles Experiment. Weil der Film nicht nur bis in Nebenrollen großartig besetzt ist, sondern Wackerbarth, wie schon in seinem Film „Unten Mitte Kinn“, improvisieren ließ. So spielte das Ensemble nicht nur Rollen, sondern brachte doch auch ganz Persönliches ein. Ein reizvolles Spiel mit den Ebenen zwischen Inszeniertem und Dokumentarischem.

Dabei ist „Casting“ schon auch, aber nicht nur eine Nabelschau auf die neurotische Filmszene. Der Film wächst sich aus zu einer Comédie humaine, in der alle darum kämpfen, arbeiten zu dürfen. Wo es um Macht, Abhängigkeiten und Hackordnung geht, um ökonomischen Druck und die Angst, nicht mehr dazuzugehören. Weshalb sich jeder, wirklich jeder in Szene setzen muss. Und automatisch eine Rolle spielt. „Casting“ ist letztlich eine bissige Satire über Selbstvermarktung. Und das ist etwas, das jeder kennt. Wie wir uns darstellen. Welches Bild wir von uns in sozialen Medien geben. Und wie wir unser Selbstbildnis im Spiegel abgleichen. Der Film wirft einen da ganz auf sich selbst zurück. Da bleibt einem das Lachen zuweilen im Halse stecken.

„Casting“ D 2017, 94 Min., o. A., R: Nicolas Wackerbarth, D: Andreas Lust, Judith Engel,
Milena Dreißig, täglich im Abaton