Washington.

Die Entscheidung, das erfolgreichste Kartenhaus in der Fernsehgeschichte nächstes Jahr einstürzen zu lassen, war angeblich lange vorher gefallen. Für die Verkündung suchte sich Netflix dann aber doch einen ganz besonderen Zeitpunkt aus.

Ausgerechnet am Tag, als Hollywood-Superstar Kevin Spacey sein Outing als Homosexueller höchst umstritten mit der Entschuldigung verband, vor 30 Jahren einen damals 14-jährigen Jungen sexuell genötigt zu haben, gab der Streaming-Dienst das Aus für „House of Cards“ bekannt. Die sechste Staffel des preisgekrönten Polit-Intrigantenstadls, in der Spacey den zwischen Macht und Geilheit pendelnden US-Präsidenten Frank Underwood spielt, soll 2018 die letzte sein. Und selbst das steht in Frage: Die Dreharbeiten für diese Staffel sind „bis auf weiteres“ unterbrochen worden, wie Netflix und die Produktionsfirma MRC später gemeinsam nachschoben.

Dass Spacey, ein 58 Jahre alter Hollywood-Titan, der mit Oscars (Film) und Tonys (Bühne) prämiert ist, im Sog des Harvey-Weinstein-Skandals ebenfalls in die Grauzone des sexuellen Missbrauchs geraten ist, hält der kreative Erschaffer von „House of Cards“, Beau Willimon, für „tief verstörend“.

Was war geschehen? Anthony Rapp, Schauspieler („A Beautiful Mind“, „Star Trek: Discovery“), heute 46, erzählte dem Internetmagazin Buzzfeed, dass er immer noch mit den psychischen Folgen eines sexuellen Übergriffs durch Spacey zu kämpfen hat, der sich 1986 in New York nach einer Party zugetragen haben soll. Dabei soll Spacey den damals 14-jährigen Rapp ins Bett gehoben haben, um ihn zu verführen. Rapp konnte sich befreien, erlebt seither aber jede Begegnung mit Spacey, real oder medial, als Albtraum.

Spekulationen über weitere Opfer

Ausgelöst durch den nicht enden wollenden Sündenfall um den Hollywood-Produzenten Weinstein fasste Rapp den Mut und machte seine eigene Geschichte öffentlich. Spacey erklärte danach via Twitter, dass er „erschüttert“ sei, sich aber an die von Rapp geschilderte Szene, die im betrunkenen Zustand geschehen sein müsse, nicht erinnern könne. Aber: „Wenn ich mich so verhalten habe, wie er es beschreibt, dann schulde ich ihm meine aufrichtige Entschuldigung.“ Er wolle sein Leben, in dem es romantische Beziehungen zu Männern wie Frauen gegeben habe, nun einer näheren Prüfung unterziehen und ehrlicher werden, fügte der in New Jersey geborene Mime hinzu.

Bis dahin hatte Spacey, dessen sexuelle Identität ihn bereits vor 20 Jahren auf das Titelblatt des Magazins „Esquire“ brachte (Zeile: „Kevin Spacey hat ein Geheimnis“), sich stets eines öffentlichen Bekenntnisses verweigert. „Es gibt eine Trennlinie zwischen Job und Privatsphäre, die ich nie überschreiten werde. Wem das nicht passt, der soll zum Teufel gehen“, sagte er 2005 in einem Interview mit der Schweizer „Weltwoche“.

Dass Spacey sein Outing („Jetzt lebe ich als schwuler Mann“) ausgerechnet im Kontext mit der sexuellen Bedrängung eines Minderjährigen vollzog, brachte ihm massenweise Kritik ein. „Kevin Spacey hat gerade etwas erfunden, das es vorher nicht gab: einen schlechten Zeitpunkt für ein Comingout“, erklärte der Comedian Billy Eichner. Das Statement sei „ekelhaft, verstörend und gefährlich“.

Homosexuellen-Aktivisten verwahrten sich dagegen, dass Spacey seine Sexualität mit der unerwünschten Annäherung an ein Kind verquickt. Wissend, dass der Pädophilie-Vorwurf immer wieder als Munition gegen Schwule benutzt wird. Wissend, dass in diesen Tagen der frühere Kinderkino-Star Corey Feldman im Zuge des Weinstein-Skandals angedeutet hat, eine Liste mit bekannten schwulen Hollywood-Akteuren zu veröffentlichen, die sich angeblich an kleinen Jungs vergehen. Für Autor Dan Savage, einen der bekanntesten Aktivisten in den USA für sexuelle Minderheiten, war die Sache klar: „Es gibt kein Niveau an Trunkenheit oder Verschlossenheit, das einen Übergriff auf ein 14 Jahre altes Kind entschuldigt oder wegdiskutiert.“

In sozialen Netzwerken wurde Spacey Scheinheiligkeit vorgeworfen. Im Rückblick müsse manche Rolle vielleicht „neu bewertet“ werden, hieß es. Beispiele: In Spaceys oscarprämiertem Meisterwerk „American Beauty“ von Sam Mendes geht es um einen älteren Mann, der ein junges Mädchen verführen will. Und in „House of Cards“ gibt es einige homoerotische Begegnungen zwischen Frank Underwood und dem Secret-Service-Agenten Edward Meechum.

Ob die Personalie Anthony Rapp bald ausgestanden ist, erscheint fraglich. Die TV-Moderatorin Heather Unruh schrieb kürzlich auf Twitter: „Ich war ein Fan von Kevin Spacey, bis er einen geliebten Menschen angefallen hat. Es ist Zeit, dass die Dominosteine fallen.“ Es wird spekuliert, dass Anthony Rapp nicht das einzige Opfer war.