Osdorf. Völlig unvorbereitet nahm Journalistin Adrienne Friedlaender aus Osdorf Syrer Moaaz bei sich auf. Über diese Zeit schrieb sie jetzt ein Buch

Lebhaft geht es zu im Hause Friedlaender, aber keineswegs chaotisch. Die Söhne Juri und Johann kommen müde aus der Schule, Vizsla-Rüde Carlo bellt zum Steinerweichen und Sohn Jonah muss an der Bahn abgeholt werden. Schultaschen fliegen in die Ecke, mal heißt es „Ich bin müde“, dann wieder „Wann gibt’s Essen?“

Mitten im Zimmer des Osdorfer Reihenhauses steht Mutter Adrienne als ruhender Pol neben ihrem aufgeklappten Laptop. Mit ein paar Küssen für die Jungs und einer entschlossenen Geste Richtung Carlo lenkt die aparte 54-Jährige alles in die richtigen Bahnen häus­lichen Wohlbefindens und plant dann rasch den Rest des Nachmittags. Ankommen, Ausruhen, Sattwerden. Noch jemand tritt ins Zimmer, der auch zur Familie gehört, aber mittlerweile als Besucher vorbeischaut: Moaaz.

Im November 2015 hatte die Friedlaender-Familie den damals 22-jährigen Syrer bei sich aufgenommen – weitgehend planlos, aber ausgestattet mit Pragmatismus, guten Nerven und vor allem viel Nächstenliebe. Die treibenden Kräfte waren damals – auf dem Höhepunkt der viel zitierten Flüchtlingskrise – die jüngsten Söhne Juri und Johann. „Warum nehmen wir eigentlich niemanden auf?“, habe Juri damals gefragt. „Alle reden immer von Mitleid und den armen Flüchtlingen, aber keiner will sie ins Haus lassen.“

Familienoberhaupt Adrienne, alleinerziehende Mutter von vier Söhnen, war zunächst zögerlich, dann gefiel ihr die Idee. „Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es andersrum wäre. Wie es mir gehen würde, wenn mein Sohn fliehen müsste. Wie dankbar wäre ich einer anderen Mutter am anderen Ende der Welt, die ihn aufnehmen würde“, erklärt sie. Gesagt, getan – und nie bereut. Über das Leben mit Moaaz hat die freie Journalistin ein Buch geschrieben, das einerseits sehr amüsant ist, andererseits auch oft nachdenklich stimmt. Dass sie damals ziemlich unvorbereitet, vielleicht auch etwas chaotisch an das Projekt heranging, verrät Friedlaender schon in der Unterzeile. Sie lautet: Meine Familie, ein Flüchtling und kein Plan.

Die fünf Friedlaenders (Sohn Justus lebt mittlerweile in Berlin) hatten damals zwar aus einem Bauchgefühl heraus agiert, aber dafür sofort Nägel mit Köpfen gemacht. Schnelle, praktische Hilfe, statt sinnloser Theorie. „Man kann Dinge auch kaputtplanen“, sagt Adrienne Friedlaender dazu, „ein viertes Kind und ein zweiter Hund – die passen ja auch nie so ganz genau in den Lebensentwurf“. Viele kennen solche Überlegungen, wenige gehen damit so entschlossen um wie diese Familie.

Mit „Händen und Füßen, Herz und Verstand“ erklärten sie und ihre Söhne dem jungen Syrer den Alltag und die deutsche Kultur, schreibt Friedlaender. Für sie begann damals eine lehrreiche Zeit, in der sie Fehleinschätzungen und ein paar Vorurteile über Bord warf. Ein amüsantes Beispiel: Nachdem sie ihm gestenreich erklärt hatte, dass die Toilette von Jungs und jungen Männern im Haus ausschließlich sitzend benutzt werden dürfe, reagierte Moaaz kühl-belustigt: „But that’s normal.“ Das Buch bietet viele dieser Anekdoten, vom syrischen „Zeitmanagement“ über ein kurioses Weihnachtsfest bis zu Ernährungsfragen. Friedlaenders Erkenntnis im Rückblick: Es gibt mehr Gemeinsames als Trennendes zwischen und Menschen – egal, wo wir herkommen.“

Moaaz, schlank und blass, ist ein eher stiller Typ, der lange nachdenkt, bevor er redet. Nach sieben Monaten im Friedlaender-Haushalt lebt er mittlerweile mit seinem Kumpel Hussein in einer Wohngemeinschaft in Stellingen. Trotz des erst relativ kurzen Aufenthalts in Hamburg spricht er bereits fließend Deutsch, was seine Intelligenz und seinen Fleiß zeigt, aber auch – was so oft vergessen wird – die Qualität der angebotenen Sprachkurse. Moaaz ist aufgeschlossen und gelassen, kommuniziert aber nicht so locker, wie Außenstehende es vermutlich erwarten. Von der Flucht und seinem Leben kurz davor in Syrien spricht er fast gar nicht, gerne aber von der glücklichen Kindheit. „Mein Syrien gibt es nicht mehr“, ist so ein knapper, vielsagender Satz. Lange hatte er mit einem Messer unter dem Kopfkissen geschlafen – „weil das Albträume vertreibt“.

In den ersten Monaten bei den Friedlaenders war er viel in seinem Zimmer, musste erst mal innerlich ankommen. Ziehmutter und Brüder ließen ihn gewähren. Sie drängelten ihn nicht zu gemeinsamen Unternehmungen, signalisierten aber, dass sie jederzeit für ihn da sein würden. „Wir konnten nicht endlos Zeit anbieten, so Adrienne Friedlaender, „aber endlos Geborgenheit.“

Moaaz liebt Hamburg – und vermisst die Berge

Sein Vater ist tot, und mit der leiblichen Mutter kommuniziert Moaaz seit seiner Ankunft nur über soziale Medien. Einladungen für ein Wiedersehen in Hamburg gibt es, ob und wann es dazu kommen wird, ist unklar.

Seiner Ziehmutter hat er zum Geburtstag einen Kalender geschenkt, die dazugehörende Tüte mit Adjektiven versehen, die Adrienne Friedlaender beschreiben. „Selbstbewusst“ ist da zu sehen, auch „geduldig“, „nachdenklich“ und „tolerant“. Hamburg liebt Moaaz – „weil ich hier Deutsch gelernt habe“. Und wer ihn fragt, was er besonders vermisst, erhält eine unerwartete Antwort. „Die Berge“, sagt er nach längerem Nachdenken, und dann wehmütig: „In meiner syrischen Heimat gab es viele Berge. Die brauche ich eigentlich zum Leben. Aber das weiß ich erst jetzt.“

„Willkommen bei den Friedlaenders“ heißt das Buch von Adrienne Friedlaender, in dem sie das Leben ihrer Familie mit Flüchtling Moaaz beschreibt. Es ist im Blanvalet Verlag erschienen und kostet 16 Euro. Die Autorin arbeitet seit mehr als zehn Jahren als freie Journalistin. Als die Friedlaenders Moaaz 2015 bei sich aufnahmen, hatte die „Flüchtlingskrise“ ihren Höhepunkt erreicht.

2015 strömten 40.868 Flüchtlinge nach Hamburg, von denen 22.315 blieben. Aktuell liegt die Zahl der Geflüchteten, die in Hamburg leben bei mehr als 50.000, in den öffentlichen Einrichtungen der Stadt stehen rund 37.000 Plätze zur Verfügung. Für die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gibt es 432 Plätze.