Wir wählen, damit die Gewählten endlich eine Regierung bilden – doch viele Politiker chillen lieber in Talkshows

Jetzt beiße ich ihm ins Ohr. Für sein „Immer mit der Ruhe“. Er, der ICE-Zugchef, meinte es kein bisschen beruhigend. Sondern als Machtdemonstration. Als Bizeps-Anspannerei, der Sheriff in diesem Zug bin ich.

Er entscheidet, ob der Zug den Leipziger Hauptbahnhof gleich verlässt. Oder ob – immer mit der Ruhe – zu den bereits angesammelten 35 Minuten Verspätungen noch ein halbes Stündchen dazukommt. „Immer mit der Ruhe“ ist eine Standardansage der Bräsigen. „Immer mit der Ruhe“ ist das Floskelgeschwister des nach Fritierfett müffelnden „Mahlzeit“-Grußes zur Mittagspause. Leider habe ich auch schon „Immer mit der Ruhe“ gesagt. Wenn ich als Rettungssanitäter zwischen Geschrei, Bluterei und zu viel Dunkelheit nicht wusste, was eigentlich los ist. Zur eigenen Beruhigung. Kann sein, dass die politische Spitze dieses Landes ähnlich überfordert ist und deswegen eine „Immer mit der Ruhe“-Auszeit unbedingt braucht. In der Hektik des Wahlkampfendspurts vermittelten die Kandidaten allerdings den Eindruck, es müsse schnell eine Entscheidung her. Zum Wohl der Deutschen. Und jetzt?

Die Spitzenvertreter der Parteien haben abends viel Zeit, um sich in allen möglichen Talkshows zu treffen. Dort bereden sie dann, wie es wohl wird, wenn sie miteinander reden. Warum bringen die nicht einfach Koalitionsbesprechungszettel mit? Maybrit Illner kann zweifelsohne auch solche Streitgespräche zu einem besseren Ende führen. Wir erleben ein politisches Kurz-Sabbatical, weil die Parteien unbedingt die Niedersachsen-Wahl abwarten wollen. Die 72 Millionen Deutschen, die nicht unter Heidschnucken und Ostfriesen wohnen, könnten durchaus jetzt schon eine neue Regierung vertragen. Geht es nach der Landtagswahl dann womöglich weiter „Immer mit der Ruhe“? Bis der CSU-Parteitag Horst Seehofers Unsterblichkeit und damit seine ins Unendliche währende Amtszeit beschließt? Wir wählen, damit die Gewählten eine Regierung bilden, statt im Dauerschwatz zu chillen. War unser Votum nicht deutlich genug? Sollen wir Euch wirklich kräftiger ins Ohr beißen?