Berlin.

Die Landschaften vor 400 Millionen Jahren sind karg. Kaum eine Pflanze wurzelt im Boden, kein Tier hat bislang den Schritt aus dem Wasser gewagt. In den Ozeanen jedoch blüht das Leben. Und in jener Zeit, im sogenannten Silur, verschwindet ein Ozean. Verschluckt, als der Mikrokontinent Pearya mit dem Urkontinent Laurentia, der heutigen Kontinentalplatte Nordamerikas, kollidiert.

Lange haben Wissenschaftler das vermutet, nun haben sie dafür Belege in der Arktis gefunden. „Das ist mal eine Geschichte, die man erzählen kann“, sagt Karsten Piepjohn: „Ein Ozean verschwindet!“ Er ist Strukturgeologe an der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover und hat die Expedition „Case 19“ in die Arktis geleitet. „Was wir Geologen treiben, elektrisiert die Menschen ja in der Regel nicht. Sie denken halt an Steine“, sagt er. Auch diesmal geht es um Steine. Aber sie eröffnen eine spannende Geschichte.

Vor drei Monaten, im arktischen Sommer, haben Piepjohn und weitere 50 Wissenschaftler aus acht Ländern für neun Wochen ihr Lager am Ende der Welt aufgeschlagen – auf Ellesmere Island am nordamerikanischen Kontinentalrand. Arktis. Eine unwirtliche Gegend, das nächste Krankenhaus 2700 Kilometer entfernt. Es wachsen keine Büsche und Gräser. Moose und violette Steinbrechwiesen drücken sich flach auf den kargen Boden. Das Zeltlager der Forscher ist umgeben von fast 2000 Meter hohen Bergen. Der arktische Sommer ist kalt in diesem Jahr, zwei bis vier Grad Celsius an den meisten Tagen. An einigen minus sechs.

Die Wissenschaftler haben sich dieses nur schwer zugängliche Expeditionsgebiet auf Ellesmere Island ausgesucht, um Teile einer großen Frage zu beantworten: Wie ist der Arktische Ozean entstanden? Sie wollten einen Blick werfen in die subtropische Arktis von vor 50 Millionen Jahren. Gefunden haben sie Spuren einer gigantischen tektonischen Verwerfung, bei der ein Ozean verschwand.

Zurück also in die Zeit vor etwa 400 Millionen Jahren: Der kleine Kontinent Pearya war einmal, so vermuten die Forscher, Teil einer gemeinsamen Landmasse mit Spitzbergen, der größten Insel der norwegischen Inselgruppe Svalbard im Arktischen Ozean. Sehr, sehr langsam, über Millionen Jahre, bewegten sich Spitzbergen und Pearya gemeinsam in Richtung Süden, bis sie auf die Küste Nordamerikas trafen. Auf Ellesmere Island befindet sich nun die Nahtstelle, die vom Verschwinden des Urmeeres kündet. „Die Unfallstelle“, wie Piepjohn sagt. Die Schlussfolgerung der Forscher: Wenn es eine Kollision zweier Kontinentalplatten gab, muss vorher zwischen ihnen ein Meer gewesen sein. Nur – wie verschwindet ein Meer? Ein Ozean noch dazu? Und wie lässt sich das beweisen?

Alles hängt mit der Plattentektonik zusammen, jenem Phänomen, das die Erde in unserem Sonnensystem einzigartig macht: Dabei schwimmen große Teile der Erdkruste auf zähflüssigem, heißen Gestein im oberen Erdmantel. Wie US-Wissenschaftler gerade im Fachblatt „Science“ veröffentlichten, prägt diese Drift der Kontinente bereits seit 3,5 statt wie lange angenommen drei Milliarden Jahren das Erscheinungsbild des Planeten, sie hat Gebirge und Vulkane geschaffen und ist der Grund, warum auch heute immer wieder die Erde bebt. In Italien beispielsweise und gerade erst in Mexiko.

Bewegt sich ein Kontinent auf den anderen zu, schiebt er die ozeanische Kruste des dazwischenliegenden Meeres vor sich her. „Und weil Ozeanboden schwerer ist als die kontinentale Platte, schiebt er sich irgendwann unter die Kontinentalplatte“, sagt Karsten Piepjohn. Der Ozean wird schmaler und schmaler, bis ihn die Erde nach und nach verschluckt.

Afrikanische Kontinentalplatte schiebt sich Richtung Europa

Diese tektonische Verschiebung hinterlässt Spuren. Eine Wissenschaftlerin aus Hannover war es, die erste Hinweise in der kargen Landschaft der Arktis entdeckte: Amphibolit-Gesteine. Ihr sei aufgefallen, wie viel es von dem dunklen Gestein an der Nahtstelle gebe. „Wie sich herausstellte, war es eine Gesteinsstruktur, die mit den Strukturen auf einer alten Ozeanplatte zusammenhängt“, erzählt Piepjohn. Als sich nämlich Ozeanboden unter Kontinentalplatte schob, sind wie bei einem Hobel Späne entstanden, die nach oben gedrückt wurden und seit Hunderten Millionen Jahren auf Ellesmere Island liegen.

Mit dem Fund begann das Kopfkino bei den Geologen, Sedimentologen, Paläontologen und Paläobotanikern, bei den Petrologen und Geochronologen: Wie alt sind die Steine? Wie hat es landschaftlich zu dieser Zeit hier ausgesehen? Wie war das Klima? Die Tierwelt? „Wir gehen bislang von Wahrscheinlichkeiten aus“, betont Piepjohn. „Aber wir haben uns ein Bild gemacht.“

Das sieht so aus: Es war ein Ozean, der vor 800 bis 900 Millionen Jahren entstanden ist, mit einer reichen Tier- und Pflanzenwelt, und der für 500 Millionen Jahre existierte. An der Südküste dieses Ozeans entstand am Kontinentalrand Nordamerikas ein subtropisches Flachmeer. Wo heute große Teile in der Arktis dauerhaft von Eis und Schnee bedeckt sind, hat es große Korallenriffe gegeben. Ganz ähnlich dem Great Barrier Reef in Australien. Geochemische Untersuchungen sollen das Kopfkino nun mit wissenschaftlichen Nachweisen untermauern. Zwei Tonnen Gesteinsmaterial sind derzeit unterwegs aus der Arktis nach Hannover.

Expeditionen wie „CASE 19“ erlauben nicht nur einen Blick in die Geschichte des Planeten, „unsere Entdeckungen können auch dabei helfen, die Zukunft besser einzuschätzen“, sagt Piepjohn. Denn das Aussehen der Erde, wie wir sie kennen, ist eine Momentaufnahme. Ihre Oberfläche ist ständig in Bewegung. Und auch heute verschwinden Meere.

Etwa schrumpft das Mittelmeer, ein Nebenmeer des Atlantischen Ozeans, da sich die afrikanische Kontinentalplatte in Richtung der eurasischen schiebt. Deshalb bebt in Italien immer wieder die Erde. „Forscher finden Hinweise auf Urmeer zwischen Europa und Afrika“ – Nachrichten aus einer fernen Zukunft.