Das Miniatur Wunderland in der Speicherstadt begeistert nicht nur Eisenbahnfans, sondern auch Menschen aus aller Welt mit viel Witz und Liebe zum Detail. Wie eine verrückte Idee zu einer faszinierenden Erfolgsgeschichte wurde

Das Wunderland ist eine Weltsensation, und was für eine. Es ist noch nicht lange her, da konnte es den letzten verbliebenen weißen Fleck von der Weltkarte streichen: Bis dahin hatte nie ein Mensch aus Osttimor Hamburgs spektakuläre Sehenswürdigkeit besucht. „Davon hatte ein junger Ostimonese gehört und aus Berlin einen Abstecher nach Hamburg gemacht“, erzählt Frederik Braun. Eine weitere Erfolgsgeschichte, geschrieben im Miniatur Wunderland. Nun haben Menschen aus allen Herren Länder die Welt im Maßstab 1:87 schon bereist, selbst aus dem Vatikan kamen fünf Gäste. Und der Zähler in der Speicherstadt springt von Sekunde zu Sekunde weiter. Fast 16 Millionen Gäste besuchten das Wunderland seit der Eröffnung 2001, von Jahr zu Jahr werden es mehr. Aus einer irren Idee ist ein wahnwitziger Erfolg geworden. Die kleine Welt in der Speicherstadt ist längst zur großen Attraktion geworden.

Das Faszinosum der Miniaturwelt ist in den alten Speichern zum Greifen. Im Sekundentakt blitzen Kameras auf, kleine Finger zeigen auf Details, Silberlocken wiegen sich mit einer Mischung aus Begeisterung und Fassungslosigkeit. Man weiß nicht, wohin der Blick schweifen soll – auf die Gäste, die sich laut Umfragen zu 97 Prozent begeistert äußern und wiederkommen wollen, oder auf die zahllosen Details der Modelllandschaft. Eine Schafherde blockiert eine Landstraße, in Knuffingen demonstrieren Menschen für die Rente mit 30, zwei Außerirdische spielen in den USA Basketball, in einem Sonnenblumenfeld verlustiert sich ein Liebespaar, im Wasser treibt eine Leiche. Das Wunderland erzählt Alltägliches, inszeniert Außergewöhnliches – und erfindet Absurdes wie die Mondlandung in einem TV-Studio oder die Verschwörung einer geheimen Weltregierung.

Alles begann an einem Sommertag in einer Zürcher Gasse. Frederik Braun war dort im Juli 2000 mit zwei Freundinnen unterwegs. Zu dieser Zeit betrieb er mit seinem Zwillingsbruder die Diskothek Voila in Eilbek, die Reise sollte eine Auszeit vom anstrengenden Leben im Tanzpalast sein. Eine Mischung aus Langeweile und Zufall trieb Braun in einen kleinen Modelleisenbahnladen. Hier kam ihm die Idee eines gigantischen Wunderlands, gleich darauf rief er seinen Zwillingsbruder in Hamburg an. „Ich dachte, er ist verrückt geworden“, erinnert sich Gerrit Braun heute an das folgenreiche Telefonat. „Ich fragte ihn: Hast du einen Sonnenstich?“ Doch Frederik ließ nicht locker; noch am selben Abend war sein Bruder überzeugt. Er sollte für lange Zeit der Einzige bleiben.

Egal, mit wem die beiden sprachen, sie ernteten Spott, Kopfschütteln und gut gemeinte Ratschläge. Eine Modelleisenbahn? Wer soll sich so etwas anschauen? Zumal schon damals dieses Hobby mehr und mehr aufs Abstellgleis geriet. „Der Markt schrumpft“, sagt auch Gerrit Braun. „Die Kinder leben in einer virtuellen Welt, da ist eine Modelleisenbahn viel zu langsam und teuer.“ Das hielt die Brüder aber nicht davon ab, einen Versuch zu wagen. Über das Internet schrieb Frederik nachts Tausende wildfremde Internetnutzer an und fragte sie, welche Tourismusziele sie in Hamburg besuchen wollten. Neben Alster, Michel, Reeperbahn schummelte Braun ein Biermuseum, ein Cyber-Space-Center und das Wunderland unter. 3000 Antworten gingen ein; während die Männer durchaus Interesse an einer Modelleisenbahn bekundeten, landete es bei den Frauen auf dem letzten Rang. Diese Marktforschung entmutigte die Brüder nicht, sondern war ihnen eine Lehre – sie mussten die Herzen der Frauen gewinnen.

Im Modellort Knuffingen rückt die Feuerwehr alle 15 Minuten zur Brandbekämpfung aus

Die Haspa gewährte zwei Millionen D-Mark für den Wahnsinnsplan, die HHLA überließ den ehemaligen Discobesitzern zu einem fairen Preis alte Kaffeelagerflächen. Nun fehlten nur noch geschickte Modellbauer. Die meldeten sich reichlich nach einem Artikel im Abendblatt über den verwegenen Plan, rund 200 Menschen reichten Bewerbungen ein. „Auf der Tanzfläche unserer Diskothek bastelten wir schließlich mit 40 Hamburgern erste Modelle“, erinnert sich Frederik Braun. Das Team sollte ohne Modelleisenbahner auskommen, man wollte gemeinsam bei null beginnen und eine neue Welt erschaffen. Eine Welt, die eben nicht nur Märklin-Freaks fesselt, sondern Jung wie Alt, In- wie Ausländer, Männer wie Frauen.

Entsprechend frühzeitig rückte das Geschehen abseits der Gleise in den Mittelpunkt. „Die Vielfalt der kleinen Dinge, unsere Verrücktheit und die Summe der Liebe und Hingabe sind die Attraktion“, sagt Frederik Braun. „All das macht am Ende aus einer kleinen Miniaturwelt, eine Welt der Superlative, die weltweit einmalig ist.“ Einer der Höhepunkte des ersten Bauabschnitts war die Feuerwehr des Modell­orts Knuffingen, die ständig Brände etwa im Schloss löschen muss. Der Clou: Die Feuerwehr rückt im 15-Minuten-Takt zur Brandbekämpfung aus, insgesamt fahren Hunderte Autos über die Straßen der Modelleisenbahn. Eine so komplizierte Technik hatte es vorher nicht gegeben, sie wurde in Hamburg entwickelt. Bis Sommer 2001 hatten die Bastler schon 2500 Entwicklerstunden in die Technik investiert, doch erst in der Nacht vor der Eröffnung liefen die Modellautos erstmals reibungslos. Heute steuern Computer jedes einzelne Fahrzeug, bremsen an den Ampeln, fädeln auf der Autobahn ein, steuern durch die Stoßzeiten. Und die 1000 Züge sind inzwischen über 10 Millionen Kilometer gefahren – also 250-mal um die Welt.

Der Ehrgeiz der Brüder in der Speicherstadt wurde legendär, ihr Motto hieß stets: „Geht nicht, gibt‘s nicht.“ Die Zähne bissen sich die beiden an der computergestützten Schiffsteuerung in der Modelllandschaft Skandinavien aus. Ähnlich anspruchsvoll geriet der Bau des Flughafens Knuffingen. Hier landen und heben im Minutentakt Maschinen ab – „allein dafür waren 40 Erfindungen nötig“, so Gerrit Braun.

Die Brüder Braun erweiterten die ersten drei Bauabschnitte Mitteldeutschland, Knuffingen und Österreich, die in 60.000 Arbeitsstunden erbaut waren, um Hamburg. In 95.000 Arbeitsstunden entstand zwischen 2001 und 2002 die am dichtesten besiedelte Stadt im Wunderland, mit vielen bekannten Hamburgensien wie dem Turmbläser im Michel, den Landungsbrücken, dem Tierpark Hagenbeck. Die Arena im Volkspark mit 12.500 (!) Zuschauern wiederholt bis in alle Ewigkeit das 4:3 des HSV gegen den FC St. Pauli vom 2. Dezember 2001. Nur wenige Meter entfernt liegt seit Dezember 2003 Amerika, ein etwas schrill geratener Nachbau von Mount Rushmore, dem Yosemite Nationalpark, einem Weltraumbahnhof und dem mit 30.000 LEDs blinkenden Las Vegas. Beschaulicher, größer und noch aufwendiger präsentiert sich Skandinavien. Über 100.000 Arbeitsstunden in zwölf Monaten dauerte es, bis im Sommer 2005 ein halber Kontinent in der Speicherstadt wuchs – von der See mit echtem Tidenhub von vier Zentimetern bis ins nordschwedische Erzabbaugebiet um Kiruna inklusive Beltbrücke, Villa Kunterbunt und Bergtrollen.

Zweieinhalb Jahre später erbrachten die Brüder den Beweis, dass man Skandinavien noch steigern kann – mit der Schweiz. Um das Matterhorn maßstabgetreu nachzubilden, durchbrachen die Wunderländer die Speicherdecke. Auf zwei Etagen können Besucher nun den Berg bestaunen, genau 5982 Millimeter hoch. Viele halten die Schweiz für das Meisterstück der Brauns – mit der liebevoll gestalteten Bergwelt, der mittelalterlichen Burg Montebello, dem Zement- oder dem voll funktionstüchtigen Schokoladenwerk und einem Freiluftkonzert mit DJ Bobo – vor 21.300 Fans.

Ende 2015 eröffneten die Zwillingsbrüder nach fünf Jahren Bauzeit Italien. Auf 190 Quadratmetern haben die Modellbauer Rom, die Toskana, Cinque Terre, Südtirol, die Amalfiküste und Pompeji mit dem Vesuv erschaffen. Allein der Petersdom besteht aus 18.000 Einzelteilen und verschlang knapp zwei Jahre Bau- und Konstruktionszeit. Nun entsteht Venedig an der Elbe. Der Teilabschnitt wird zwar nur neun Quadratmeter groß, aber jeder Quadratmeter kostet 90.000 Euro. Und das soll noch nicht das Ende der Wunderwelt sein. „Bald geht es Richtung Boulevard und Glamour nach Monaco. Gerrit Braun hat gerade mit den ersten Tests für eine Formel-1-Strecke begonnen“, verrät er. Sollten neue Flächen im Nachbargebäude bereitstehen, kann noch Jahre weitergebaut werden. Großbritannien, Afrika, der Mond – Ideen gibt es viele im Team, das inzwischen 300 Mitarbeiter hat. Ein Wirtschaftswunder, made im Wunderland. „Der Bau der Anlage hat bis jetzt knapp 800.000 Arbeitsstunden und rund 20 Millionen Euro verschlungen“, sagt Braun. Aber das wirklich Aufwendige und Teure ist die Wartung und der Betrieb. „Am Ende ist alles Spielzeug und nicht dafür gemacht, 365 Tage im Jahr über elf Stunden im Schnitt zu laufen.“