Berlin.

Gletscher wie der Ver­nagtferner in den Ötztaler Alpen führen eindrucksvoll das Drama des Klimawandels vor Augen. Vor Jahrzehnten schob sich der strahlend weiße Eisriese noch bis ins Tal und glitzerte dort in der Sonne. Heute hat sich der Berg weiträumig aus dem Rofental zurückgezogen und dem Ort eine karge Geröllwüste als Aussicht hinterlassen. Manfred Scheuermann, Geologe und Kartograf des Deutschen Alpenvereins, verfolgt den Gletscherschwund seit über drei Jahrzehnten. „Es ist schon dramatisch, wenn man beobachtet, wie die Gletscher immer weiter an Masse verlieren. Dort zeigt sich der Klimawandel unmittelbar“, sagt er. Noch nie sei das Eis so schnell getaut wie in den vergangenen Jahren. „Die Gletscherströme in den Zentralalpen weichen an den Gletscherzungen jetzt teilweise um bis zu 20 Meter pro Jahr zurück.“ Der Große Aletschgletscher, der größte der Alpen und Teil des Weltkulturerbes Jungfrau-Aletsch im Kanton Wallis, büßt sogar 50 Meter pro Jahr ein.

Die Prognosen sehen schlecht aus, sind sich die Experten einig: Ohne eine gravierende Klimaänderung in den nächsten Jahrzehnten werden sich die Gletscher immer weiter auf das Hochplateau zurückziehen, in Teilbereiche zerfallen und schließlich ganz verschwinden. Seit den 80er-Jahren haben die Gletscher der Schweizer Alpen so mehr als ein Drittel ihrer Fläche verloren. Im vergangenen Jahr ließen sie 900 Milliarden Liter Wasser. Bis 1973 zählte die Schweiz 2150 Gletscher, heute sind es noch rund 1400. Glaziologen wie Matthias Huss von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich rechnen damit, dass es die meisten Gletscher bis Ende des Jahrhunderts nicht mehr gibt. „Die Schweizer Gletscher sind nicht mehr zu retten“, sagt er.

Betroffen sind auch die fünf letzten deutschen Gletscher in den Bayerischen Alpen. Nach Berechnungen des Bayerischen Landesamts für Umwelt ist der größte deutsche Berg, die Zugspitze (2962 Meter), spätestens in 60 Jahren eisfrei. Die anderen schon in der Hälfte der Zeit.

Erdrutsche und Felsabbrüche bedrohen Bergdörfer

Die Alpen verlieren damit nicht nur ihre touristische Attraktivität, das Abschmelzen birgt auch Gefahren für die Menschen. Am 23. August hatte es im Schweizer Ort Bondo, Kanton Graubünden, einen verheerenden Bergsturz gegeben. Vier Millionen Kubikmeter Gestein krachten vom Piz Cengalo ins Tal. Acht Touristen kamen ums Leben, viele Einheimische verloren Haus und Gut. Erdrutsche, sogenannte Murgänge, und Felsabbrüche bedrohen Bondo und seine Nachbardörfer weiterhin. Dabei lebt die eigentlich idyllische Bergell-Region zum großen Teil vom Tourismus. Nun hat sie Angst, dass Feriengäste auf längere Zeit fernbleiben. Zwar sehen Experten mehrere Ursachen für den Bergsturz in Bondo – so ist das Gestein vom Piz Cengalo ohnehin stark zerklüftet – aber die rasante Eisschmelze, da sind sich die Forscher einig, habe den Berg ins Rollen gebracht.

Steigende Temperaturen und starke Gewitter, die die Klimaerwärmung mit sich führt, lassen die Naturgefahren wachsen. Das Risiko eines Bergsturzes ist zwar eher gering. Aber die Nachrichten über verschüttete Wanderwege, Schlammlawinen und tonnenschwere Gesteinsbrocken, die auf Passstraßen krachen, häufen sich. Erst am vergangenen Sonntag kam es im Kanton Wallis zu einem Gletscherabbruch – Hunderttausende Kubikmeter Eis stürzten ab. Diesmal donnerte es nicht wie befürchtet ins Tal.

Der Klimawandel ist in den Alpen, vor allem in der Schweiz, stärker spürbar als in anderen Regionen der Welt. Dort ist die Durchschnittstemperatur seit Beginn der Messungen 1864 um gut zwei Grad gestiegen – mehr als doppelt so viel wie im weltweiten Durchschnitt. Hochgebirgen droht ein Dominoeffekt. Steigen die Temperaturen in den Alpen über null Grad, taut auch der sogenannte Permafrost. Das ist das unsichtbare Eis in den Felsen, das wie Zement wirkt und die Felsen zusammenhält. Schwindet er, können große Felspartien ihren Halt verlieren. Gletscher wie der Vernagtferner in den Ötztaler Alpen sind auch äußerlich schon „blank“. Sie haben den für den Aufbau von neuem Gletschereis erforderlichen Firnkörper, den körnigen Altschnee, verloren. Nun erinnern sie an öde Mondlandschaften. Damit zahlungskräftige Touristen keinen Bogen um die Alpen machen, sollen die Risiken so klein wie möglich gehalten werden. Behörden überwachen Gefahrenzonen mit Satellitentechnik, im Akkord werden riskante Wanderwege gesperrt und verlegt, große Schilder warnen vor mobilem Gestein. Manche Seilbahnstützen, die auf gefrorenem Boden stehen, müssen von Saison zu Saison versetzt werden.

Für Bergsportfreunde versprüht Geologe Scheuermann vom Deutschen Alpenverein zumindest gegenwärtig Optimismus: „Die Alpen sind ein hochattraktives Wandergebiet und können weiterhin grundsätzlich ohne Bedenken besucht werden“, sagt er. Unfälle durch Steinschläge gebe es bisher selten. Nach der Statistik des eine Million Mitglieder zählenden Vereins geht die Zahl der Bergunfälle über Jahre sogar konstant zurück – obwohl es immer mehr Menschen auf die Berge treibt. Dennoch mahnt Scheuermann zu besonderer Vorsicht: „Besucher müssen ihr Verhalten bei Bergwanderungen an veränderte Gefahren anpassen.“

Geröll könnte in den Seen Flutwellen auslösen

Das gilt auch für Skifahrer – wird der Schnee wärmer, steigt auch die Lawinengefahr. Ohnehin wird die Skisaison in vielen Gebieten immer kürzer. Der Schnee fällt später und schmilzt früher, und ohne Schneekanonen ist das Skifahren auf den meisten Pisten kaum noch denkbar. Das Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos hat die Schneemengen in verschiedenen Szenarien bis zum Jahr 2100 simuliert. Das Ergebnis: Selbst falls es gelänge, die Klimaerwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, sinke die Schneemenge um 30 Prozent.

Professor Wilfried Haeberli von der Universität Zürich, der die Gletscherschmelze in einer nationalen Studie untersucht hat, warnt indes vor tropfenden Zeitbomben: Den Bergdörfern am Fuße der Gletscher drohten noch viel größere Bergstürze. Parallel dazu bildeten sich immer mehr Seen aus Schmelzwasser. Stürzt dann Geröll ins Tal und trifft einen Gletschersee, so Haeberli, könne dies riesige Flutwellen auslösen.

In der Schweiz seien solche Szenarien – anders als in Nepal oder Patagonien – vielleicht erst in 30 Jahren akut. Aber schon jetzt müssten Vorbereitungen für den Fall der Fälle getroffen werden, rät der Glaziologe. So müsse man beispielsweise das Stauvolumen der Seen erhöhen und Tunnel zur Entwässerung bauen.